Nach der kirchlichen Revolution kam die philosophische Umwälzung
Die mittelalterliche oder scholastische Philosophie trägt, bis auf verschwindend kleine Ausnahmen, einen durchaus christlichen Charakter an sich. Richtig anerkennt sie die zwei großen Ordnungen, welche als unverrückbare Tatsachen vor uns stehen:
in dem Reiche der Erkenntnis die natürliche und übernatürliche Wahrheit, im Reiche des menschlichen Tuns die Natur und die Gnade, im Gesellschaftsleben die zwei Hauptorganismen, den Staat und die Kirche. Und diese beiden Ordnungen gehen so verschwistert mit einander, daß Philosophie und Theologie, obgleich man sie in der Theorie wohl unterschied, doch oft in der Praxis tatsächlich eine und dieselbe Disziplin darstellen. Denn Natur und Offenbarung stammen von dem Einen allmächtigen, allweisen und allgütigen Gott; es kann daher ein eigentlicher Widerspruch zwischen beiden nicht bestehen. Das natürliche Wissen, die Philosophie, und die Wissenschaft des Übernatürlichen, die Theologie, können einander nicht im Wege stehen, helfen sich vielmehr gegenseitig; das menschliche Denken sucht die Glaubenssätze, soweit es möglich ist, unserem Verstand näher zu bringen, die höchste Vernünftigkeit derselben zu beweisen, und wenigstens, wo die Regionen für den endlichen Geist zu hoch werden, die dagegen erhobenen Einwürfe als unbegründet hinzustellen. Zugleich dient die Offenbarung als Leuchtturm für das natürliche Denken, damit es nicht auf dem weiten und klippenreichen Meer menschlicher Erkenntnis verirre und zu abenteuerlichen Phantastereien verschlagen werde, und als reiche Fundgrube selbst für das rein menschliche Denken. Sagt man doch, daß ein Kind auf Einer Seite seines Katechismus mehr Wahrheiten finde, als die ganze alte Philosophie der Griechen zu bieten im Stande sei. (1)
(1) Der ungläubige und unglückliche Philosoph Jouffroi sprach einst in einem besseren Augenblick seines Lebens die Worte: „Es gibt ein kleines Buch, aus welchem man die Kinder lehrt und in der Kirche abfragt. Lesen Sie dies Büchlein, es ist der Katechismus. Sie finden darin die Lösung aller von mir aufgestellten Fragen, keine einzige ausgenommen. Fragen Sie einen Christen, woher das Menschengeschlecht stammt, er weiß es; wohin es geht, er weiß es. Fragen Sie ein armes Kind, das sein Leben lang noch nicht darüber nachgedacht hat, warum es hier auf Erden ist, und was es nach seinem Tod wird, so gibt es Ihnen eine erhabene Antwort . . .
Es kennt den Ursprung der Welt, des Menschen-Geschlechtes, die Frage der Verschiedenheit der Stämme, die Bestimmung des Menschen hier und drüben, die Beziehungen des Menschen zu Gott, die Pflichten gegen Seinesgleichen, das Recht des Menschen auf die erschaffenen Dinge. Und ist das Kind groß geworden, so hat es keinen Zweifel über das Naturrecht, das bürgerliche und Völkerrecht; denn dies Alles ergibt sich klar und wie von selbst aus dem Christentum. Sehen Sie, das ist eine große Religion; ich erkenne sie an diesem Kennzeichen, daß sie keine der brennenden Fragen ungelöst lässt.“ A. Neut, attentats de la Fr.-M,. à l’ordre social, Gand 1868, p. 89 et suiv.
Und sogar im alltäglichen Leben macht man die Erfahrung, daß man Gegenstände, auf welche man erst vermittelst des Fernrohrs aufmerksam geworden ist, später auch mit unbewaffnetem Auge wahrnimmt. Ebenso hat die christliche Lehre eine Fülle von Wahrheiten dem menschlichen Philosophieren erschlossen.
Da trat, kaum hundert Jahre nach der kirchlichen Revolution des sechszehnten Jahrhunderts, die große philosophische Umwälzung ein, welche in zwei großen Strömen über die Länder hinfloss und im Geheimbund der Freimaurer ihre Organisation und Propaganda fand, politisch aber als stumpfsinniger Liberalismus unser öffentliches Leben bis in die Familie hinein ansteckte. Wir sehen hier wieder die alte weltgeschichtliche Erfahrung bestätigt, daß nichts tiefer in’s Leben der Einzelnen und der Völker eingreift, als ein religiöser Irrtum, und daß aus der religiösen Revolution notwendig die wissenschaftliche, aus dieser die politische, aus der politischen die soziale hervorgeht, bis endlich die Menschheit ratlos am Abgrund des Nichts anlangt.
Der Grundcharakter der philosophischen oder wissenschaftlichen Umwälzung, die sich aus dem ersten Viertel des siebenzehnten Jahrhunderts datiert und bis heute fortspinnt, ist die Entthronung des persönlichen Gottes und die usurpatorische Erhebung des Menschen, d. h. der Kultus der Humanität, mit seinem Non serviam. Die moderne Philosophie ging einerseits nur von den sinnlich – wahrnehmbaren Dingen (Sensualismus) und der menschlichen Erfahrung (Empirismus) aus. So musste der Blick des Menschen von den lichten Höhen des persönlichen und außerweltlichen Gottes weg und zu den erschaffenen Dingen, welche wir mit unsern fünf Sinnen wahrnehmen können, hingewendet werden; alles Geistige und Höhere wurde, weil nicht sichtbar und nicht greifbar, außer Acht gelassen, vergessen, geleugnet, bis der Mensch als einziger und unverantwortlicher Gebieter allein auf dem Plan übrig blieb, und das Idol der Humanität fertig war. —
Anderseits war der Menschengeist durch das Umherirren in die empiristische Breite unbefriedigt, suchte also im menschlichen Ich selbst den höchsten Grund aller sicheren Erkenntnis, aller Wahrheit, ja endlich alles Seins. Die Philosophie „vertiefte und verinnerlichte sich“, um einen ihrer Lieblingsausdrücke zu gebrauchen. So haben wir den Rationalismus, an dessen Endpunkte sich der schwimmende Pantheismus breit macht; in diesem aber ist wiederum das Menschentum das letzte Göttliche, was übrig geblieben.
Unsere moderne Philosophie hat den Menschengeist emanzipiert zuerst vom Gott der Offenbarung, dann von jeder Idee eines persönlichen und überweltlichen Gottes, schließlich von jeder Abhängigkeit; ja, sie hat ihm endlich die äußere Welt unter den Füßen weggezogen und die im menschlichen Ich geformte Idee als das einzig Seiende, Bleibende und Göttliche vorgestellt. „Ihr werdet sein wie Götter.“ Aber im Augenblick, da der arme Staubgeborene sich selbst vergöttert, ist er ebenso jammerwürdig, als ein altheidnischer Kaiser Roms, wenn bei der Apotheose seine Leiche auf dem Scheiterhaufen brannte. –
aus: Georg Michael Pachtler SJ, Der Götze der Humanität, 1875, S. 51 – S. 54