Die Andacht zum reinsten Herzen Mariä
Auch bei der Gebenedeiten ist der vollgültigste Grund, sie zu verehren, ihre übernatürliche Liebe zu Gott und zu den Menschen. Diese Liebe, entsprechend der Gnadenfülle, die sie von den ersten Anfängen ihres Daseins empfangen hat, und die beständig in ihr gewachsen ist, hat ihr ganzes Leben und jeden Augenblick desselben heiligend durchdrungen, und ohne Unterbrechung und Störung ihr ganzes Wesen von Klarheit zu Klarheit, zum Ideal aller sittlichen Vollkommenheit, zu Gottes reinstem Bilde gestaltet. Diese Liebe hat sie zu einer würdigen Mutter des Ewigen gemacht; diese Liebe hat sie befähigt, zur Erlösung mit zu wirken, wie keines der Geschöpfe, und dem Weltheilande das Blut zu geben, durch das wir erkauft sind; dieser Liebe verdanken wir, daß sie in Schmerzen unsere Mutter geworden ist und die Mittlerin der Gnade; diese Liebe, die nun vollendet ist in der Seligkeit, macht sie zu unserer allvermögenden treuen Fürbitterin für uns und zu unser Aller nie täuschenden Zuflucht. In ihr liegt ihre ganze Würde und Größe, die Erklärung aller Geheimnisse ihres Lebens, die Ursache alles dessen, was wir durch sie erhalten haben, und durch sie erwarten.
Nun, an dieser Liebe war und ist ihr Herz mit beteiligt; sagen wir es geradezu, wie das Herz Jesu (um die Worte des Beatifikations-Dekretes der Margaretha Alacoque vom 19. August 1864 anzuwenden), der Sitz der göttlichen Liebe ist, so ist das Herz Mariä der Sitz jener ihrer Liebe, die nächst der göttlichen die reinste, tiefste, heiligste, größte ist. Unter diesem Gesichtspunkte nehmen wir gerade ihr wahres, wirkliches, leibliches Herz, das ja fortlebt im Himmel und dort fort schlägt für uns arme Menschenkinder. Das Herz ist uns ein Symbol, aber nicht ein Symbol, das mit dem Darzustellenden nur einige analoge Eigenschaften hat, wie oben von dem Lichte als einem Symbole der Gnade gesagt wurde; auch nicht ein Symbol, das nur in Folge einer Übereinkunft Geltung hat, wie z. B. die Übergabe der Schlüssel die Mitteilung der Gewalt bezeichnet (vergl. Math. XVI. 19.); endlich auch nicht ein Symbol, das nur durch Beziehung auf das Darzustellende einen Anspruch auf Ehrfurcht hätte, wie etwa der Fisch, den wir in den römischen Katakomben auf den Wänden, Grabmälern, Inschriften finden, und der nur durch seine Beziehung auf Christus den Retter, Erleuchter, Führer und Ernährer während der irdischen Pilgerschaft (vergl. Tob. VI. 5, 6, 8, 9.) uns teuer ist: nein, das Herz Mariä ist das natürliche Symbol der Liebe Maria’s in ihrer ganzen Tiefe und Höhe und Länge und Breite. Der Glanz, der es auf den verschiedenen Abbildungen umgibt, erinnert uns an die Glorie, in welcher diese Liebe ewig triumphiert und herrscht; die Lilien, die es bekränzen, sollen uns die immerwährende, allem Irdischen entrückte und vollendete Reinheit, das Schwert die Teilnahme ihrer Liebe an dem Schmerze und dem Opfer des Erlösers sinnbilden.
Jetzt wird auch der Zweck unserer Andacht klar. Sie will durch den Gegenstand, den sie uns vorhält (das Herz der seligsten Jungfrau und Gottesmutter), und der, anziehend und gleichsam überwältigend wie kein anderer, die Fülle ihrer Herrlichkeit und den Reichtum ihrer Erbarmungen darstellt, die Verehrung der Hochgebenedeiten im Allgemeinen von neuem beleben, verbreiten, und, wenn der Ausdruck gestattet ist, vertiefen. Sie will uns insbesondere zum Mittelpunkte aller Vollkommenheit, nämlich der Liebe selbst führen und in jenem Herzen, über das sich Gottes Gnade in tausend Strömen ergossen, und das treu, wie kein anderes, dem Geber wiedererstattet, was es ihm schuldete, uns Ermunterung und Anleitung geben, sein inneres Leben und seine Tugenden, so weit wir es vermögen, uns anzueignen, und, wie es selbst der reinste Spiegel des Herzens Jesu Christi ist, diesem als von Gott gewollten Vorbilde Aller ähnlich und gleichförmig zu werden.
Sie will uns endlich in den mannigfachen Trübsalen und Gefahren dieses irdischen Daseins an jenes Mutterherz weisen, das, weiter noch als unser Elend, und überreich an Macht und Milde, uns Trost und Rettung und Seligkeit bei dem Herzen des Heilandes vermittelt…
Wie nun Christus dem Herrn es gefiel, dem Kaltsinn der Zeit gegenüber der Liebe seiner Diener neuen Zündstoff zuzuführen, indem er, um die Augen der Menschheit auf den Mittelpunkt seiner allerheiligsten Menschheit zu lenken, uns die Andacht zu seinem Herzen offenbarte: so gefiel es ihm auch, der Christenheit durch seinen Geist, der die Gerechten belebt und die Kirche leitet, damit auch hierin die Mutter mit dem Sohne verbunden bleibe, die Andacht zu ihrem Herzen einzuflößen, und so ihrer Verehrung neue Wärme und Innigkeit zu verleihen. Aber wie geschah dieses? Es gibt keinen Kult des Heilandes und seiner gebenedeiten Mutter ohne Liebe gegen sie, und keinen auch, der nicht von ihrer uns erwiesenen Liebe seine hauptsächlichste Nahrung finde. Daher wird es begreiflich, daß, wenn der Lebenseifer der Gläubigen neu erweckt und belebt werden sollte, kein Mittel geeigneter war, als die zwei heiligsten Herzen zu einem neuen Gegenstande des Kultus zu erwählen, in denen als ihren natürlichen Symbolen die ganze volle Liebe beider sich uns darstellt. Ohne diese Symbole würden beide Kulte nicht so schnell volkstümlich und wirksam geworden sein, oder doch sich bald wieder verflüchtigt haben…
Und das Herz Mariä wird verehrt als das Herz der Mutter des menschgewordenen Wortes, als das vollendetste Nachbild seiner Heiligkeit, als der Feuerherd der reinsten Liebe, als weites Meer der Barmherzigkeit, und als der Weg, welcher durch sein zur Nachfolge so mild und mächtig einladendes Leben, und durch die Gnaden, die es in solcher Fülle und beständig erfleht, zum Sohne führt.
Die eine Andacht (zum Herzen Mariä) ist die Pforte, die uns in das innerste Heiligtum der andern (zum Herzen Jesu) kommen läßt; so wie diese andere nur die Vorhalle ist, durch die wir in das Allerheiligste der Gottheit selbst eindringen. „Alles ist euer; ihr aber seid Christi, Christus aber Gottes“ (1. Kor. 3. 22, 23.). –
aus: Theodor Schmude SJ, Das reinste Herz der heiligen Jungfrau und Gottesmutter Maria, 1875, S. 81 – S. 84; S. 93 – S. 94