Der lange Mönch Pater Valerian – Der Liebe Sieg
Eine Disputation in Danzig
Die Stadt Danzig war im Mittelalter eine der mächtigsten Handels- und Seestädte an der Ostsee, und wer heute durch ihre Straßen wandelt, die alten Häuser, Giebel an Giebel gereiht, mit glänzenden Spiegelfenstern, Erkern und Bildhauer-Schmuck auf sich herab schauen sieht, die engen Gassen und Gässchen, die alten Festungswerke mit den riesigen Bastionen, die zahlreichen Kirchen, Kaufhäuser usw. betrachtet, der mag sich, ähnlich wie es wohl nur noch in einer süddeutschen Stadt, nämlich Nürnberg, der Fall ist, mit einem Mal um ein halbes Jahrtausend zurück versetzt glauben. Mancher Blutstropfen und manche Träne ist geflossen in dieser Stadt seit ihrem Anfang, und manche denkwürdige Geschichte mag sich in- und außerhalb dieser alten Häuser schon abgespielt haben.
Eine der schönsten aber ist die, welche sich abgesponnen hat zwischen dem Rathaus und dem Franziskaner-Kloster, und die soll in folgendem zu Ehren jener von Gott gegebenen heiligen Liebe mitgeteilt werden, welche nach dem Zeugnis des hl. Paulus „geduldig und gütig ist, und alles trägt, alles hofft, alles duldet“.
Die Geschichte ereignete sich im Jahre 1636, also vor mehr als dritthalb Jahrhunderten.
Da stand das Volk dicht gedrängt um das Rathaus; eine Anzahl festlich gekleideter Stadtknechte hielt eine Gasse frei zum Eingang, und durch dieselbe schritten, teils einzeln teils in Gruppen, ernst und feierlich Beamte der Stadt, gelehrte, Patrizier, „Junker“ (wie man zu Danzig ausnahmsweise die reichen Kaufherren nannte); dann wieder adelige Herren aus der Umgegend und Theologen der katholischen Kirche wie der protestantischen Konfession.
Mit gespannter Erwartung besah sich das Volk die Vorüberziehenden. Aber nicht die Würde, der hohe Stand, die prächtigen Gewänder waren es, welche besondere Aufmerksamkeit erregten. Vielmehr flüsterte man sich bei jedem einzelnen immer nur die Fragen und Antworten zu: „Ist er katholsich?“ – „Ist er protestantisch?“ – „Ja!“ – „Nein!“
Jetzt entstand eine Bewegung.
Eine Anzahl Wachen nahte, dann Offiziere, darauf eine glänzende Reihe hoher Herren: Gesandte vom Kaiserhof in Wien, vom Hof zu Prag, der stolze Gesandte des Königs von Frankreich und sogar der polnische Reichskanzler selbst mit zahlreichen polnischen Hofherren: alles in Gala, festlich und feierlich.
Die zwei Hauptpersonen der Disputation
Der protestantische Pastor Bartholomäus Nigrinus
Und nun kamen eigentlich erst die zwei Hauptpersonen; und als sie kamen, ging ein bewegtes Flüstern durch die Menge, die Köpfe drängten sich neugierig vor, und tausend Augen richteten sich auf die Nahenden.
Es kam zunächst ein protestantischer Geistlicher in seiner Amtstracht, umgeben und geleitet von einer großen Zahl Standesgenossen. Das Selbstbewusstsein der Überzeugung sprach aus dem feierlich erhobenen Haupt, aus der ganzen entschlossenen Haltung des Mannes.
„Das ist der Doktor Bartholomäus Nigrinus, unser evangelischer Pastor“, flüsterten die calvinischen Zuschauer Danzigs einander schmunzelnd zu; „der muss dem lutherischen Rektor aus der Patsche helfen.“
Der Kapuziner Pater Valerian
Und jetzt nahte als zweite Hauptperson, umgeben von einigen seiner Brüder, ein armer Kapuziner. Eine hohe Gestalt, den Strick um den vom rauhen Habit bedeckten mageren Leib geschnürt, den Rosenkranz zur Seite, tiefen Ernst im Angesicht, schritt er barfuß daher. Gleich seinen Genossen, von denen keiner das Auge aufschlug, betete er im stillen.
„Der lange Mönch!“ ging`s mit Sturmes-Schnelligkeit durch die Reihen der Zuschauer, und mit einer Art Ehrfurcht und Bewunderung sah alles auf den Kapuziner.
Dem Leser sei des nähern mitgeteilt, daß es sich um eine Disputation, ein Religions-Zwiegespräch handelte, und zwar in dem großen Rathaussaal und vor all den hohen Herren, welche wir vorbei ziehen sahen; es sollte dabei öffentlich gestritten und bewiesen werden, wer die Wahrheit für sich habe, die alte katholische Kirche oder die neue Konfession, welche sich den Namen der protestantischen gegeben hatte. Den Streit aber sollten miteinander ausfechten der „lange Mönch“ und der calvinische Stadtpfarrer von Danzig, Dr. Nigrinus.
„Der lange Mönch“ oder P. Valerian, wie er mit seinem Klosternamen hieß, war fast in ganz Europa bekannt. Sein Predigertalent war Staunen erregend; nach Tausenden zählten seine Bekehrungen bei den Missionen, die er hielt. Er predigte deutsch, italienisch, französisch und lateinisch. Das Volk hing an ihm mit unbeschreiblicher Begeisterung; er aber ebenso am Volk. Zwar hatte man ihn wiederholt bei besonders schwierigen Anlässen, wo der Friede nicht zu erhalten gewesen wäre, als kaiserlichen Gesandten nach Prag, Paris, Warschau und an andere Höfe geschickt, und er hatte stets das Ziel erreicht; einmal war ihm sogar eine kaiserliche Hochzeits-Angelegenheit übergeben worden, und der dermalige König von Polen hatte allein dem entschiedenen Auftreten wie der Besänftigungs-Kunst des „langen Mönches“ seine Krone zu verdanken – allein alle derartigen Sendungen waren dem P. Valerian nichts weniger als erwünscht, und er war herzensfroh, wenn er daheim in stiller Zelle weltverborgen an seinen Büchern weiter schreiben konnte, oder wenn er mitten unter das vom Dreißigjährigen Krieg geschundene und zertretene arme Volk sich stellen, ihm predigen und die Beichte hören durfte. Von Mund zu Mund erzählte sich das Volk, wie der „lange Mönch“ an der Spitze seiner Kapuziner nach Prag geeilt war, als dort die Pest auf dem Höhepunkt ihres Wütens stand, und wie er in übermenschlicher Arbeit Tag und Nacht, selbst unberührt vom Todesengel, Tausende der letzte leibliche und geistliche Arzt und Tröster geworden war.
Das Religionsgespräch zwischen Dr. Nigrinus und P. Valerian beginnt
Schon mehr als einmal war P. Valerian im Feuer einer öffentlichen Disputationen gestanden, aber stets mit Ehren. Noch vor kurzem hatte ihn der lutherische Rektor des Gymnasiums in Danzig, Johann Botsak, heraus gefordert: P. Valerian war sofort erschienen, und die beiden hatten einander ihre Gründe und Beweise vorgelegt. Aber nach kurzer Zeit war Botsak sparsamer und immer sparsamer geworden mit seinen Verteidigungen, und nach kleiner Frist hatte er, besiegt auf allen Punkten, den Schauplatz verlassen müssen. Die Protestanten von Danzig waren äußerst erbost über diese Niederlage. Da trat jetzt der calvinische Stadtpfarrer Dr. Nigrinus für seinen geschlagenen Amtsbruder in die Lücke. Er wollte die evangelische Ehre retten; P. Valerian hatte sofort angenommen – und nun ging`s eben zum Beginn der neuen Disputation hinauf in den Rathaussaal.
Welches sollte ihr Ausgang sein? –
Zwei Kanzeln waren einander gegenüber aufgestellt, von welchen aus die beiden Streiter sprechen sollten; Bücher aller Art waren auf einem Tisch ausgebreitet; ringsum waren bedeckte Sitze für die hohen Herrschaften, welche der Disputation anwohnten.
Nun wurden die Saaltüren geschlossen.
Der Kapuziner warf sich auf die Knie nieder zum stillen Gebete um den Beistand des heiligen Geistes, die katholischen Zuhörer taten desgleichen; Nigrinus und seine Glaubens-Genossen beteten stehend. Eine feierliche, lautlose Stille waltete.
Jetzt bestiegen die beiden Gegner ihre Lehrstühle, verneigten sich vor den Zuhörern, die sich gesetzt hatten, und nun begann Nigrinus, ausführlich, Punkt für Punkt, ruhig und sachlich darzulegen, worin er die katholische Lehre für unrichtig halte.
Als er zu Ende war, begann der Kapuziner seine Gegenrede, nachdem er sich andächtig bekreuzt hatte. Zuerst wiederholte er die Hauptsätze seines Gegners, um zu zeigen, daß er sie richtig aufgefaßt habe, dann widerlegte er sie Punkt für Punkt aus der heiligen Schrift, aus den Kirchenvätern, aus dem gesunden Menschenverstand, aus der Geschichte der Christenheit. Nigrinus antwortete wieder, brachte neue Punkte zur Sprache, führte seine Beweise dagegen; P. Valerianus entgegnete unermüdlich mit vollster Ruhe und Geduld auf jeden Satz des Gegners.
Mit lautloser Stille lauschte das Publikum; kein Zwischenruf, kein Wort ward gehört. Das war wirklich eine gelehrte Disputation, hoch ernst und würdig der heiligen Sache, der sie galt. Nicht eine Silbe der Leidenschaftlichkeit war eingeflossen, wie das bei andern Disputationen so oft der Fall war, wo die in die Enge getriebenen Gegner zur Grobheit ihre Zuflucht nahmen oder sich zu höchst gewagten Behauptungen verstiegen. Die beiden Gegner, das sah man, waren einander gewachsen; sie wußten das selbst am besten und achteten einander persönlich mitten im schärfsten Kampf um die Wahrheit.
Gegen 10 Uhr früh hatte die Disputation begonnen; sechs Stunden hatte sie gedauert; es war über 4 Uhr abends. Da hob der Reichskanzler die Disputation auf und bat die Gegner, morgen fortzufahren. So geschah es; man kam am andern und wieder am folgenden Tag zusammen; fünf Tage lang dauerte der Streit. Von Tag zu Tag war die Aufmerksamkeit der Zuhörer gewachsen. Schon manchen Punkt hatte Nigrinus fallen lassen müssen; es handelte sich um den letzten und wichtigsten. Der hagere, barfüßige Kapuziner ins einer armseligen Kutte hatte seinen Gegner und dessen Verteidigung wie mit einer eisernen Zange gefaßt und ließ ihn nicht mehr los, bis er ihm auf den letzten Punkt hinaus in allem schlagend nachgewiesen hatte, daß die katholische Lehre dem Sinn der Heiligen Schrift entspreche und die von Christus geoffenbarte sei.
Eine Pause entstand, als Pater Valerian geendigt hatte.
Der calvinische Pastor Dr. Nigrinus muss sich geschlagen geben
Aller Augen ruhten auf Dr. Nigrinus.
Zweimal erhob er die Augen, als wollte er abermals erwidern; aber er ließ das Haupt nieder sinken. Langsam strich er sich mit der Hand über die Stirne, der schweiß stand darauf. Sollte er die bisher streng gewahrte Würde, die Ehrlichkeit und den anstand verletzen, sollte er nun, da er nichts mehr zu erwidern wußte, das alte wiederholen, was ihm längst widerlegt war, sollte er mit leeren Verdächtigungen, mit allgemeinen Redensarten und Scheltworten sich hinaus zu helfen suchen? Der böse Feind reizte ihn heftig dazu; er stachelte seine Ehrgeiz. Aber Dr. Nigrinus war ein Ehrenmann und ein Christ; er wies die Versuchungen ab.
„Der Wahrheit allein die Ehre!“ sprach er jetzt; „ich bin augenblicklich außer Stande, etwas Triftiges antworten zu können auf die Beweise meines Gegners; ich bitte, mir eine halbe Stunde Bedenkzeit zu gönnen.“
Das war natürlich gewährt. Während die Zuhörerschaft sich leise unterhielt, stieg Nigrinus von seiner Kanzel herab, setzte sich an den Tisch, besann sich und suchte bald da bald dort in einem Buch nach. Die halbe Stunde war dahin; Nigrinus kehrte nicht auf seine Kanzel zurück; eine zweite, lange Viertelstunde – und er schwieg noch immer. Mit stiller Freude blickten die Katholiken auf den Kapuziner, die Protestanten murrten laut gegen den besiegten Nigrinus.
Das noble Verhalten des Kapuziners Valerian
Das mochte P. Valerian nicht länger ansehen; so ernst er es genommen hatte in der Verteidigung der Lehre, so wollte und konnte er keinen Augenblick sich weiden an der persönlichen Verlegenheit eines besiegten Gegners. Rasch trat er von seiner Kanzel herab, stellte sich wie ein Bruder an die Seite des Dr. Nigrinus und sprach warm und innig: „Wundert euch nicht, wenn Nigrinus auf meine Beweise hin schweigt; er unterlag nicht, als würde er mich an Weisheit und Gelehrsamkeit nicht weit übertreffen, sondern deshalb, weil er eine unhaltbare Sache verteidigte. Nicht von meiner Schwachheit ist er besiegt worden, sondern von der Wahrheit, die ja allenthalben siegt. Ich freue mich, daß er betrübt ist, nicht seiner Niederlage wegen, sondern weil er betrübt ist darum, daß er gegen die Wahrheit gestritten hat.“ (*)
Mit Erstaunen und Bewunderung blickte Nigrinus auf zu dem edlen Gegner, welcher seinen Sieg so edel verhüllte. Schweigend erhob man sich, die Katholiken freudig triumphierend, die Protestanten im Gefühl der schweren Niederlage.
Die Protokollführer traten auf den Wink des Vorsitzenden vor und verlasen den Bericht über den gang und das Ende der ganzen Disputation. Das Protokoll wurde unterzeichnet von den Gesandten, dem Reichskanzler, den Hofherren und zahlreichen Anwesenden, darunter von einem protestantischen Pagen, welcher beisetzte, daß er durch die Disputation katholisch geworden sei; dann übergab man die Urkunde dem Sieger, und der Reichskanzler verkündete, daß P. Valerian das Recht habe, das Protokoll überall in Abschriften öffentlich anschlagen zu lassen und im Druck heraus zu geben.
Schweigend nahm „der lange Mönch“ die Urkunde; einen Blick richtete er auf Nigrinus, der ihn bittend ansah, er möge mit Schonung und Milde von diesem Recht Gebrauch machen; dann sprach er: „Ich habe in der Schule Christi gelernt zu schonen; Gott ist mein Zeuge, daß ich keinen Triumph für mich suche, vielmehr gebe ich alle und jede Ehre dem Geist der Wahrheit, dem sie allein gebührt. Ferne sei es von mir, mich der Niederlage des Gegners zu freuen, da ich vielmehr nur an sein Heil denke.“ (**)
Sprach`s – machte eine rasche Wendung mit dem Arm, und die Akten und Urkunden, das Zeugnis seines Sieges, flogen ins Feuer, das im nahen Kamin brannte. Ein paar waren auf den Boden gefallen; diensteifrig beförderte auch sie ein Knecht zu den andern. Da schmolz die letzte Eisrinde von dem Herzen seines Gegners, bewundernd und voll dankbarer Verehrung wollte sich Nigrinus dem Pater zu Füßen werfen, dieser aber schloss ihn mit herzlicher Liebe ins eine Arme und drückte ihn brüderlich ans Herz.
Sprachlos und im Innersten ergriffen standen die Zuschauer bei diesem unvorhergesehenen Ausgang der Disputation von Danzig; die versöhnten Gegner aber traten Hand in Hand hinaus, und die ganze Versammlung folgte, den Eindruck der heiligen Szene noch im Angesicht.
Der Liebe Sieg – Dr. Nigrinus wird katholisch
Der „lange Mönch“ wanderte weiter, nachdem er seine Aufgabe zu Danzig gelöst hatte, und ging nach Brünn. Nicht lange dauerte es, da trat eines Tages Nigrinus bei ihm ein. Er musste noch einmal den Pater sehen und sprechen; seine Überzeugung von der Wahrheit des protestantischen Glaubens war aufs tiefste erschüttert. Der Pater besprach sich mit ihm und gab ihm dann sein neuestes Buch über den katholischen Glauben. Nigrinus las und las. Es wurde Nacht; er las, bis er zu Ende war, und am nächsten Morgen trat er zu P. Vaerian in die Zelle mit den Worten: „Ich bin katholisch.“
Und kurze Zeit danach vernahmen die Danziger Protestanten, daß ihr Stadtpfarrer Dr. Bartholomäus Nigrinus den Protestantismus verlassen habe und katholisch geworden sei. Und in seine Fußstapfen traten sofort noch verschiedene andere Protestanten; vor dem Volk aber suchte man es zu verheimlichen und vergessen zu machen.
Aber zur Ehre unserer heiligen katholischen Wahrheit, zur Ehre der siegreichen Nächstenliebe und zum Andenken an den „langen Mönch“, P. Valerian de Magnis (er ist geboren zu Mailand im Jahre 1586, starb am 29. Juli 1661 und ist begraben zu Salzburg in der Kapuzinergruft; sein Bild samt einer ehrenden Inschrift ließ der Fürstbischof in eine Kupfertafel stechen), soll es hiermit aus der Vergangenheit wieder aufgefrischt werden.
Gott allein und seinem Heiligen Geist sei alle Ehre in Ewigkeit!
(*) Diese Worte sind nach den Ordensaufzeichnungen genau die des P. Valerian.
(**) Eigene Worte des P. Valerian –
aus: Konrad Kümmel, An Gottes Hand, Viertes Bändchen: Osterbilder, 1912, S. 88 – S. 96