Die Bekehrung eines liberalen Katholiken an Weihnachten(*)
Eine Weihnachtsgeschichte
Es ging gegen Mitternacht in der heiligen Weihnacht.
Eine dunkle, kalte Nacht; der Schnee flog wirbelnd nieder, und die Straßen waren hoch damit bedeckt; die dürftigen Öllaternen flackerten gespenstisch schwankend an den schrill krächzenden Ketten, die quer und hoch über der Straße balancierten. Haus um Haus war erleuchtet: man rüstete sich zum nächtlichen Amt, das nach alter Sitte um Mitternacht stattfinden sollte.
Draußen am Ende der Stadt ragte ein niederer Gebäudekomplex auf, umgeben von einer Mauer; ein Kirchlein mit niederem Turm stand dabei. Aus seinen Fenstern glänzte helles Licht in die Nacht hinaus.
Es war das Kapuzinerklösterlein, seit kurzem erst wieder eröffnet. Heute Nacht sollte zum ersten Mal seit langer Zeit im Heiligtum die Christmette wieder stattfinden.
Dahin trippelten viele, Männer und Frauen und selbst Greise, in Pelze und warme Überkleider gehüllt, die Laternen vorsichtig tragend, und halblaut miteinander sprechend, wie um die Ruhe der heiligen Nacht auch auf der Straße nicht zu stören.
„Gott Lob und Dank zu tausend Malen“, sagte ein Mütterlein zu einer andern Frau, „dass man wieder bei den Kapuzinern die heilige Nacht feiern kann. So andächtig ist`s nirgends gewesen bei der Krippe, wie bei ihnen; schon da ich noch ein Mädchen war, hab` ich`s nie versäumt, hierher zu gehen. Und als man das Kloster aufgehoben hat, haben wir gemeint, es könne nicht sein, Gott müsse einen Engel schicken mit feurigem Schwert, um die Räuber – Gott verzeih` mir`s, aber es ist so, und auch der Bezirkshauptmann war dabei und sein Adjunkt, mein Vetter selig – zu vernichten. Aber Gott hat es geschehen lassen.“
„Und noch viel Ärgeres, Base“, sagte die andere; „oder wer hätte es für möglich gehalten, daß man aus dem Kloster der frommen Mönche solch ein Haus macht, wie daraus gemacht worden ist? Haben sie nicht alle Bäume des Gartens ausgehauen, das Refektorium zum Stall gemacht, den Klosterkirchhof zum Platz für die Schweine, die Kirche zu einem Magazin für Bretter und für geschmuggelte Waren?“
„Und haben sie nicht“, sprach das Mütterlein, „in dem Kloster unten eine Lumpenwirtschaft eingerichtet, oben aber Wohnungen für lauter Leute, die wegen ihrer Liederlichkeit und Schlechtigkeit in der Stadt sonst keine Unterkunft finden? Haben nicht alle ordentlichen Leute bei Tag und Nacht das Kloster gemieden und umgangen, so weit sie konnten?“
„Das haben sie aus dem Heiligtum Gottes gemacht – eine Räuberhöhle aus dem Tempel“, so schloss die andere. „Aber nun Gott Lob und Dank, daß das Klösterlein wiederhergestellt ist; das wird heute Nacht ein Gloria geben, daß sich Himmel und Erde daran freuen können!“
„Aber sieh da!“ rief plötzlich die eine, „geht man beim Präsidenten auch zum Hirtenamt? Es ist ja alles hell beleuchtet!“
Die andere spähte hinunter, wo auf einem freien Platz stolz und kalt ein großes Haus stand. Der ganze Mittelflügel war hell erleuchtet.
In diesem Augenblick schallte Klavierklang herüber; ein lustiger Walzer, und deutlich sah man an den Fenstern die Gestalten der Tanzenden vorüber schweben.
Ein Schrei der Entrüstung und des Zornes wurde laut, und er teilte sich all denen mit, welche an dem Hause des Oberbeamten vorbeigingen. In der heiligen Nacht tanzen – einen Hausball halten, das war noch nicht da gewesen, seitdem die Stadt stand.
„Wenn da Gottes Segen ist, dann kenne ich mich nicht mehr aus auf dieser Welt“, meinte ein alter Mann; „man hat doch Nächte und Tage genug zum Tanzen, warum auch noch gerade die heiligste Nacht dadurch entweihen? Das hat diesen Leuten der helle Satan eingegeben.“
Und die Kirchgänger drängten sich rasch und scheu an dem Hause vorbei, als ob`s hier nicht mit rechten Dingen zuginge.
Es war so: Beim Präsidenten Hiskra, dem liberalen Katholiken, war Hausball in der heiligen Weihnacht. Ein Offizier saß am Klavier in Abwechslung mit einer Dame, und jung und alt tanzte stürmisch und leidenschaftlich im Saale um den geschmückten Christbaum. Der Präsident aber saß mit einigen Freunden beim Spiel im Nebenzimmer und ließ sich den Champagner schmecken.
„Ich verliere“, sagte er, indem er lachend die Karten hinwarf, „das Christkind bringt mir kein Glück.“
In diesem Augenblick begann ein Glöcklein hell zu läuten.
„Was ist das für ein Gebimmel?“ fragte der Präsident.
„Das ist, glaub` ich, bei den Kapuzinern nebenan.
„Ach so, die haben wir ja wieder hereingelassen“, hüstelte der Präsident, und fügte dann bei: „Meine Freunde sind es nicht, und wenn ich Herr wäre, ich ließe alle nicht bloß über die Grenze, sondern über die Klinge springen. Über die letztere kehrt keiner mehr zurück.“
Und er lachte selbstgefällig über den Witz.
„Nun, so gefährlich sind jedenfalls die paar Kapuziner vorerst nicht“, meinte ein anderer beruhigend.
„Und ich habe gesorgt dafür, dass ihnen ein starker Radschuh angelegt worden ist“, bemerkte der Präsident.
„Ich wäre sehr begierig, zu hören …“
„Nun, die Sache ist einfach. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass von den Kapuzinern, die hierher kamen, einer ein Hauptkrakeeler und Volksaufhetzer ist. Er soll der beste Prediger in halb Österreich sein, die Bauern und Städter laufen ihm stundenweit nach, er soll Bekehrungen en masse machen, und was weiß ich noch alles, sogar Wunder wirken, wenn man ihn nur auf der Kanzel sieht.“
„Und dem haben Sie den Eintritt verboten?“
„Durchaus nicht“, lachte der Präsident, „im Gegenteil, ich habe ihn hereingelassen. Aber ich hab` ihm verboten, öffentlich sich zu zeigen und zu predigen! So ist er kaltgestellt – unter meinen Augen. War das nicht pfiffig?“
„Der Todesengel“
In diesem Augenblick hüpfte der kleine Sohn des Präsidenten herein; er trug ein Bilderbuch und zeigte dem Vater ein Bild mit Gedicht, das die Überschrift trug: „Der Todesengel“.
„Sieh, Papa, das hat der liebe Gott gut gemacht“, rief er, „komm, ich will dir`s vorlesen!“
„Ach, lass mich, Kind“, erwiderte der Präsident halb betroffen, doch der Knabe las schon mit heller Stimme:
Auf dem Throne saß der hohe Herrscher in dem Geisterreich,
Salomon, der weltberühmte, dem an Weisheit niemand gleich.
Mit ihm sprach der Todesengel, von dem Herrn herab gesandt,
Daß dem König er verkünde, was beschlossen Gottes Hand.
Als der finstre Todesengel von dem Fürsten Abschied nahm,
Da gewahrte er den Kanzler, der zu raten eben kam.
Einen Blick des grüßten Staunens warf der Engel, eh` er ging,
Auf den greisen, alten Kanzler, daß er an zu zittern fing.
„Was soll mir der Blick bedeuten?“ rief der Alte bang und bleich,
Will der Engel mich entführen in sein finstres Totenreich?
Hab` ich treulich dir gedienet, weiser, großer Salomon!
Gib das schnellste deiner Rosse, hoher Herrscher, mir zum Lohn.
Nimmer lässt der Blick mich ruhen; o mein König, lass mich ziehn,
Auf dem schnellsten deiner Rosse lass dem Engel mich entfliehn!“ –
„Was du bittest“, sprach der König, „sei von Herzen dir verliehn;
Doch dem Gott verhängten Lose wirst du nie, mein Sohn, entfliehn.“
Auf des Morgens schnellstem Rosse flog wie Wind der bange Greis
Über Berg und Tal und Länder, nach der Erde fernstem Kreis.
Viele, viele tausend Meilen war mit ihm das Tier gerannt,
Als es müd bei einem Steine abends in der Wüste stand.
Da ergriff ein Schreck den Alten, daß das Leben ihm entschwand,
Als er einsam auf dem Steine schon den Engel sitzen fand.
Sterbend sprach er zu dem Engel: „Eh` du führest mich zur Ruh`,
Sprich, warum du mir am Morgen warfst den Blick des Staunens zu.“
„Wunderbarlich“, rief der Engel, „sind, o Herr, die Wege dein!
Einsam hieß er mich erwarten abends dich auf diesem Stein.
Heute sah ich noch am Morgen staunend dich bei Salomon;
Sieh, da bist du noch vor Abend zur bestimmten Stelle schon.
Staunend traut` ich nicht den Augen, weil ich`s möglich nie gedacht,
Daß so viele tausend Meilen würd` ein schwacher Greis gebracht.“
Also sprach der Todesengel; sterbend sank der Alte hin,
Der so fern herbei geritten, um dem Tode zu entfliehn.
„Papa, nicht wahr, da hat der liebe Gott gezeigt, dass er tausendmal gescheiter ist als der Kanzler vom König Salomon?“
„Ja, mein Sohn“, wollte der Präsident halb verlegen sagen – aber das Wort blieb ihm im Halse stecken.
+ + +
Unterdessen hatte das Mitternachtsamt in dem Kapuzinerkirchlein seinen Anfang genommen. Der Hochaltar, reinlich und einfach, strahlte im Lichterschmuck; in der Mitte war das Jesuskind in der Krippe gar lieblich zu schauen.In tiefste Andacht versunken, feierte der Guardian das heilige Opfer, während die Orgel den einfachen, frommen Gesang mit demutsvollen Klängen begleitete. Heilige Stille waltete in dem Raum, obgleich das Volk, Kopf an Kopf, ihn füllte. Alles war eine Andacht.
Auf dem kleinen Chor hinter dem Altar, unsichtbar dem Volk, waren die Kapuziner versammelt. Stumm knieten sie auf der Erde, dem heiligen Geheimnis folgend.
„Befreie doch diese Nacht recht viele aus Irrtum und Sünde.“
Der letzte im hintersten dunklen Winkel war eine mächtige, hoheitsvolle Gestalt; regungslos kniete er da, das Haupt zur Erde gesenkt, die Hände über der Brust gefaltet. Es war Pater Johannes, der berühmte Prediger, der nun zum Schweigen verurteilt war. Seine Seele war offenbar der Welt entrückt. Was gibt es auch Größeres und Herrlicheres, Tieferes und Schöneres, als sich in die Betrachtung der wonnigen Wahrheit zu vertiefen, daß Gottes Sohn, Gott, der Ewige, Heilige, Gerechte, uns zulieb ein armselig kleines Menschenkind ward, und dazu noch arm, arm wie kein anderes Kind auf Erden!
Jetzt klingelte es zur Wandlung.
Der Sohn Gottes, das Christkind, war hernieder gestiegen und lag auf dem Altar, in der Krippe.
Gleichwie einst der hl. Franziskus, außer sich im Angesicht der unendlichen, ganz und gar unbegreiflichen Verdemütigung Gottes in seiner Geburt als Kind, sich fassungslos auf die kalte Erde niedergeworfen und um jede Art der Verdemütigung und Schmach gebeten hatte, um seinen Gefühlen Ausdruck zu geben für die Verehrung der Geburt des Herrn, so lag auch Pater Johannes jetzt am Boden ausgestreckt.
„Liebes Jesuskind, nimm mich armen, niedrigen Sünder an als ein Opfer; lass mir alles tiefste und bitterste Leid antun, und ich will es mit tausend Wonnen tragen: zur Ehre und zur Verherrlichung deiner Geburt!“ So betete er. „Ich bin nichts und will nichts, rein nichts sein auf dieser Welt; ich suche nur dein Kreuz und deines Kreuzes Schmach und Bürde. Tausendmal danke ich dir für das Schweigen, das du meinem Munde auferlegt hast; ich bitte dich, lass mich nun mehr und mehr erkennen, daß ich nie hätte reden sollen, dass ich der letzte und unwürdigste Knecht bin.
Und o – ich bitte dich bei deiner heiligen Armut, dieser hohen und süßen Braut des Ordensmannes: befreie doch diese Nacht recht viele aus Irrtum und Sünde, führe sie zu deinem Licht und deiner Wahrheit und mache sie selig in deinem Frieden! Und wenn ich je ein Fünklein Verdienst und Wohlgefallen vor dir habe: o so schenk` ich all das gerne hin für die Bekehrung deiner Gegner, und vor allem für die Seele deines größten Gegners hier! …“
– – –
Die Bekehrung des Präsidenten
Das war der Moment, in welchem dem Herrn Präsidenten das Wort versagte: ein Schlagfluss hatte ihn getroffen.
Im Nu war die Ballfreude und der Ballrausch verflogen: die Gäste zerstoben und flohen entsetzt – nur keine Leiche sehen! Die Familie und der Hausarzt bemühten sich um den bewusstlos Daliegenden.
„Das Leben ist noch in ihm“, lautete der Bericht des Arztes, der ein christlicher Mann war; „holen sie aber sofort den Priester.“
„Priester – ja wo? wen? fragten die Leute.
„Nebenan“, gebot der Arzt; „holen Sie einen Kapuziner.“
„Was, einen Kapuziner zu meinem Mann?“ kreischte die Präsidentin entsetzt – sie war eigentlich das böse Wesen des unglücklichen Mannes mit ihrem Hochmut und ihrer Dummheit -; „warten wir bis morgen, dann lassen wir aus der Bischofsstadt einen Domherrn kommen.“
Der Arzt aber hatte bereits einen Diener fortgeschickt und erklärte der Präsidentin: „Exzellenz, wenn Sie den Kapuziner abweisen, dann verlasse ich augenblicklich Ihr Haus, und Sie mögen die ganze furchtbare Verantwortung auf sich nehmen für Leib und Seele Ihres Mannes.“
Das zog. Und als nun wenige Minuten später der Pater Johannes herein schritt mit dem Allerheiligsten, da zog sich die Präsidentin stumm zurück.
Es ging alles besser, als man geahnt: der Herr hatte das Opfer des armen Kapuziners angenommen. Der Präsident kam zum Bewusstsein, und unter den Gebeten, Tröstungen, Ermahnungen und der übrigen Beihilfe des heiligmäßigen Ordensmannes legte er eine Generalbeicht ab: der Blitzstrahl der Ewigkeit hatte ihm hineingeleuchtet in die Seele, die Gnade hatte ihn erschüttert und erfasst. Mit wirklicher, inniger Zerknirschung und Andacht empfing er den Leib des Herrn und die letzte Ölung.
Am andern Morgen fand der Arzt den Kranken weit besser, als er erwartet hatte, und nach drei Tagen erklärte er ihn für gerettet. Die Folgen des Schlaganfalls, der nicht so heftig gewesen war, wie man im ersten Augenblick gefürchtet hatte, hoben sich mehr und mehr, und nach einer vierteljährigen Erholung war der Präsident wieder hergestellt – auch an der Seele.
Denn von nun an war und blieb er ein guter Katholik und vor allem ein treuer, dankbarer Freund seiner Nachbarn, der Kapuziner. Manches Stündchen hat er in ihrer Kirche, ja sogar in ihrem Garten und Refektorium zugebracht und dort mehr Wahrheit, Weisheit, Liebe und Treue gefunden als in der Welt. Und Pater Johannes, der jetzt wieder auf der Kanzel steht als ein zweiter Elias, ist sein besonderer Freund und Beichtvater geworden und geblieben.
Wenn der Präsident aber dann und wann das Bilderbuch seines Sohnes ansieht und den „Todesengel“ schaut, dann faltet er die Hände, nimmt sein samtenes Käppchen ab und flüstert: „So hat`s Gott auch mit mir und meinem erbärmlichen Menschenwitz gemacht. Ich meinte dem lieben Gott einen Streich zu spielen, indem ich dem Pater Johannes das Predigen verbot; und nun habe ich ihn gerade auf den Posten gestellt, wo Gott ihn selbst haben wollte: als stillen verdienstvollen Büßer für mich und als Retter meiner armen Seele.“
(*) Originaltitel: Zweierlei Christnacht –
aus: Konrad Kümmel, An Gottes Hand, Zweites Bändchen, Weihnachts – und Neujahrsbilder, 1916, S. 140 – S. 148
weitere Erzählungen siehe unter: Erzählungen
Bildquellen
- Kapuzinerkirche_Bamberg_ca_1858: wikimedia