Der Friede Christi, wie er im Reiche Christi zu suchen ist
Pius XI. : Antritts-Enzyklika „Ubi arcano Dei consilio“ v. 23. Dezember 1922
(Offizieller lateinischer Text: ASS XIV [1922] 673-700)
III. Die Ursachen der Zeitübel
4. Die tiefere Ursache liegt in der Abkehr von Gott
19 Wir müssen noch eindringlicher als bisher den Gründen nachgehen, weshalb unsere Zeit dem Frieden noch so fern ist und nach der Heilung so vieler Übel sich sehnt.
Schon lange vor dem europäischen Krieg war die eigentliche Ursache so großen Unheils durch die Schuld der einzelnen und der Gesellschaft wirksam, und wenn nur alle die Zeichen der Zeit jener furchtbaren Katastrophe verstanden hätten, dann hätte gerade diese auch ihre Quelle für immer versiegen lassen müssen. Wer kennt nicht das Schriftwort: „Die der Herr verlassen, sind des Todes“ IS. 1, 28) und das tiefernste Wort Jesu, des Erlösers und Lehrers der Menschen: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh. 15, 5) sowie: „Wer nicht mit mir sammelt, zerstreut“ (Lk. 11, 23).
Die Gottlosigkeit untergrub
a) Die Autorität des Staates
20 Diese Gottesworte haben sich zu allen Zeiten bewahrheitet, heute aber erfüllen sie sich vor aller Augen. Weil die Menschen zu ihrem Elend von Gott und Jesus Christus abgefallen sind, deshalb sind sie aus dem früheren Wohlstand in diesem See von Plagen versunken; deshalb sind alle Versuche, die Schäden zu heilen und aus einem so gewaltigen Zusammensturz das Letzte zu retten, meistens ohne Erfolg. Hat man einmal Gott und Jesus Christus aus der Gesetzgebung und dem staatlichen Leben verbannt, leitet man die Autorität nicht mehr von Gott, sondern von den Menschen ab, dann entzieht man auch den Gesetzen ihre wahre und unerschütterliche Kraft, die Gehorsam sichert, und die erhabensten Rechtsgrundlagen – selbst heidnische Philosophen wie Cicero haben erkannt, daß diese Grundlagen im ewigen Gesetz Gottes ihren Ursprung haben müssen – ja, die Grundlage der Autorität selbst wird zerstört, wenn man ihren Ursprung leugnet, die zuallererst den einen das Recht verleiht zu befehlen, den anderen die Pflicht auferlegt zu gehorchen. So musste notwendig das ganze Gesellschafts-Gebäude ins Wanken geraten, da es jeder festen Stütze entbehrte und schutzlos den um die Herrschaft kämpfenden Parteien preisgegeben war; diese aber haben nur ihren Vorteil, nicht das Wohl des Vaterlandes im Auge.
b) Die Heiligkeit der Ehe
21 Ebenso verwarf man Gott und Jesus Christus als die Grundlage der Familie, indem man die Ehe zu einem degradierte die Ehe zu einem bürgerlichen Vertrag erniedrigte, während Christus sie zu einem großen Sakrament (Eph. 5, 32) gemacht hatte und zum heiligen und heiligenden Sinnbild jenes Bandes, das ihn selbst mit seiner Kirche unlöslich verbindet. Die Folgen davon liegen offen zu Tage: das Verständnis für Religion verdunkelt sich mehr und mehr beim Volk; der religiöse Sinn, den die Kirche in die Keimzelle der Gesellschaft, in die Familie, eingegossen hatte, stumpft ab; die häusliche Ordnung und der häuslicher Friede wird zerstört; die Einheit und Dauerhaftigkeit der Familie gerät immer mehr ins Wanken; die Heiligkeit der Ehe wird so häufig durch schmutzige Leidenschaften und Leben zerstörende, niedrige Selbstsucht verletzt und so die Quellen des Lebens selbst in Familie und Volk vergiftet.
c) Die christliche Erziehung der Jugend
22 Schließlich schaltete man Gott und Christus bei der Erziehung der Jugend aus; daraus folgte notwendig, daß die Religion nicht nur aus den Schulen verschwand, sondern daß sie sogar versteckt oder offen bekämpft wurde; die Kinder mussten die Überzeugung so die Überzeugung gewinnen, alles, was die Religion angehe, sei zum guten Leben nur wenig oder gar nichts wert; hörten sie doch darüber gar nicht oder nur mit Verachtung reden. Ist aber einmal Gott und göttliches Gesetz aus dem Unterricht verbannt, wie will man dann die Jugend anleiten, das Böse zu meiden und ehrenhaft und fromm zu leben? Wie will man für Familie und Staat einen Nachwuchs heran ziehen, der das Gemeinwohl zu fördern vermag, der gesittet, ordnungs- und friedliebend ist?
5. Die Folgen waren Völker- und Bürgerkriege
23 Waren aber einmal die Grundsätze der christlichen Weisheit außer Geltung gesetzt, dann brauchte man sich nicht zu wundern, daß die Saat der Zwietracht allenthalben auf so günstigem Boden aufging und schließlich zu jenem entsetzlichen Krieg sich auswuchs, der mit Blut und Gewalt den Haß unter den Völkern und unter den Volksklassen ungemessen steigerte, anstatt ihn durch Erschöpfung zu mildern.
IV. Die Heilmittel gegen die Zeitübel
24 Bisher haben Wir, ehrwürdige Brüder, von den Ursachen der Übel gesprochen, an denen die menschliche Gesellschaft leidet; jetzt wollen wir noch den geeigneten und der Natur jener Übel entsprechenden Heilmitteln suchen.
1. Gegen den Haß
a) Der Friede muss in die Herzen der Menschen einziehen
25 Zuallererst muss der Friede wieder in die Herzen der Menschen einkehren. Denn nicht viel nützen wird uns der Friede, der nur äußerlich als solcher erscheint, der sozusagen nur wie eine Höflichkeitsform die gegenseitigen Beziehungen regelt. Uns tut ein Friede not, der in die Herzen dringt, sie beruhigt und sie zum brüderlichen Wohlwollen geneigt macht. Ein solcher Friede ist aber nur der Friede Christi: „Und der Friede Christi frohlocke in euren Herzen“ (Kol. 3, 15); so und nicht anders kann der Friede sein, den er den Seinigen gibt (Joh. 14, 27), da er ja Gott ist und die Herzen durchschaut (1. Kön. 16, 7) und darin herrscht. Mit Recht konnte andererseits Jesus, der Herr, diesen Frieden seinen Frieden nennen, er der als erster den Menschen verkündet hat: „Ihr seid alle Brüder“ (Matth. 23, 8). Er hat das mit seinem Blut besiegelte Gesetz der allgemeinen, gegenseitigen Liebe und Duldung feierlich verkündet: „Dies ist mein Gebot: Liebet euch untereinander, wie ich euch geliebt habe“ (Joh. 15, 12); „Einer trage des andern Last; so erfüllt ihr das Gesetz Christi“ (Gal. 6, 2).
b) Er muss ein Friede der Gerechtigkeit und der Liebe sein
26 Daraus folgt klar, daß der wahre Friede Christi nicht von der Norm der Gerechtigkeit abweichen kann; da ja Gott selbst „nach der Gerechtigkeit richtet“ (Ps. 9, 5) und „das Werk der Gerechtigkeit der Friede ist“ (Is. 32, 17). Dieser darf aber nicht in harter und gleichsam eherner Gerechtigkeit allein bestehen, sondern muss durch das gleiche Maß von Liebe gemildert werden, deren Bestimmung es ist, die Menschen mit den Menschen zu versöhnen. Solcher Art ist also der Friede, den Christus den Menschen erworben hat, ja, wie Paulus so kraftvoll sagt: „Er selbst ist unser Friede“. Denn Christus hat durch seinen Kreuzestod der göttlichen Gerechtigkeit Genugtuung geleistet, „die Feindschaft vernichtet, … Frieden gestiftet“ (Eph. 2, 14ff) und alle und alles mit Gott versöhnt. Und mit Recht erblickt Paulus in der Erlösung nicht nur eine Tat der Gerechtigkeit, sondern vor allem ein göttliches Werk der versöhnenden Liebe und bekennt: „Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat“ (2. Kor. 5, 19). „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab“ (Joh. 3, 16). Am treffendsten hat, wie stets, der Englische Lehrer sich hierzu geäußert, indem er sagt: der wahre und echte Friede ist eher eine Sache der Liebe als der Gerechtigkeit; diese beseitigt die Hindernisse des Friedens, die Gewalttätigkeiten und Schädigungen, der Friede aber ist vorzüglich und im eigentlichen Sinne eine Betätigung der Liebe (Thom. 2 A, 2 ae, q. 29, III ad 3um).
c) Er muss seine Nahrung aus dem Ewigen ziehen
27 Auf den Frieden Christi also, der, aus der Liebe gewirkt, im Herzen wurzelt, bezieht sich mit Recht jenes Wort des Apostels vom Reich Gottes, der ja in den Herzen durch die Liebe herrscht: „Das Reich Gottes besteht nicht im Essen und Trinken“ (Röm. 14, 17) d. h. der Friede Gottes nährt sich nicht von vergänglichen Gütern, sondern von jenen geistigen und ewigen Gütern, deren Wert und Vorrang Christus die Menschen gelehrt und ihnen unaufhörlich eingeprägt hat: as nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden leidet an seiner Seele?“ Oder was kann der Mensch wohl eintauschen für seine Seele? (Matth. 16, 26). Und ferner, wo er dem Christen die Standhaftigkeit und innere Festigkeit zur Pflicht macht: „Fürchtet euch nicht vor denen, welche nur den Leib töten können, nicht aber die Seele; fürchtet vielmehr den, der Leib und Seele ins Verderben der Hölle stürzen kann“ (Matth. 10, 28; Luk. 12, 14).
d) Das schließt den rechten Gebrauch der irdischen Güter nicht aus
28 Das soll nicht etwa heißen, als ob der, dessen Wille auf den Frieden Christi zielt, die Güter dieses Lebens verschmähen müsste; soll er doch diese, wie Christus selbst verheißen hat, im Überfluss besitzen: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch dazu gegeben werden“ (Mt. 6, 33; Lk. 12, 31). Doch heißt es auch: „Der Friede Gottes übersteigt alle Vorstellungen“ (Phil. 4, 7); und gerade deswegen beherrscht er die blinden Begierden und hält er sich fern von allem Zank und Streit, den die Gier nach Besitz notwendig erzeugt.
e) Der christliche Friede schützt die Reinheit der Sitten und den Adel des Menschen
29 Sind also die Begierden gezügelt und die geistigen Güter wieder nach ihrem Wert geachtet, dann stellt sich der christliche Friede wie von selber ein mit allen seinen wohltätigen Wirkungen: er verbürgt die Reinheit der Sitten und erhöht die Würde der menschlichen Persönlichkeit, die durch das Blut Christi erlöst, zum Kind des himmlischen Vaters und damit zum Bruder Christi geweiht, durch Gebet und Sakramente der göttlichen Natur und Gnade teilhaftig und bestimmt ist, den Lohn für ein reines Leben auf Erden zu empfangen und die göttliche Glorie ewig zu genießen. –
aus: Carl Ulitzka, Lumen de caelo, Praktische Ausgabe der wichtigsten Rundschreiben Leo XIII. und Pius XI., 1934, S. 296 – S. 299