Der Abfall der Erkenntnis ist das Heidentum
Das Licht, sagt die Heilige Schrift (Joh. 3, 19), war in der Welt, die ursprüngliche Offenbarung Gottes, die wahre Religion. Aber es liebten die Menschen die Finsternis mehr als das Licht. Das ist das Heidentum. Und warum? Weil ihre Werke bös waren. Also der Grund des Heidentums ist die Sünde. Und das muss so sein. Die Sünde ist der Abfall von Gott im Willen. Der Wille zieht die Erkenntnis mit sich in den Fall; der Abfall der Erkenntnis ist das Heidentum. Das kann gar nicht anders sein; denn alle Kräfte des Geistes stehen unter sich in innigstem, lebendigstem Verband. Daher beginnt selbst im Christentum der Unglaube fast immer mit dem praktischen Unglauben, d. h. der Sünde. Wer das Gesetz, die Regel der moralischen Ordnung, tatsächlich leugnet, wird bald und notwendig auch den Gesetzgeber, das Urbild und den Begründer der moralischen Ordnung, leugnen; wie umgekehrt die sittlichen Gesetze den, der sie beobachtet, allmählich, aber sicher hinführen zur letzten Quelle, aus der sie geflossen sind. Das Heidentum ist noch nicht gestorben und stirbt nicht, das moderne Heidentum hat dieselbe Geschichte wie das der alten Welt; immerdar regt es sich in den Geistern. Es verfällt nicht dem grauenhaften Wahn des alten, weil die 1800-jährige Gewohnheit des Christentums zu tiefe Spuren dem Geist aufgeprägt hat, seine Reaktion zu mächtig ist, als daß die letzten Konsequenzen des Heidentums unter uns offen an den Tag treten könnten. Aber doch ist es da; die sinnliche Vorstellung, welche mittels der plastisch wirkenden Einbildungskraft einst die Welt und die geheimen Kräfte des Weltalls zu Göttern gestaltet, fährt in der modernen Weltweisheit fort, im Leben und in den Erscheinungen der Schöpfung unmittelbar und allein göttliches Wirken zu suchen. Nicht mehr Neptun, Äolus, Flora, Aphrodite werden von dem modernen Heiden verehrt, sondern das Toben des Sturmes, das Spiel der Lüfte, der Duft der Blumen und der Rausch der Sinnenlust als Offenbarung des ewig Göttlichen begriffen. An die Stelle der antiken Personifikationen hat das moderne Heidentum Abstraktionen, die „Natur“ gesetzt, „Stoff und Kraft“. Die letzte Phase desselben ist das: Ihr werdet sein wie Gott – die Vergötterung der Menschheit; der Kultus der Humanität wird der Dienst des neuen Gottes, und der „Gott-Staat“ soll die Kirche der Zukunft sein; dann aber schlägt die Humanität um in Barbarei, der Staat wird zum Krieg aller gegen alle.
So verstehen wir die Worte des Apostels: „Es wurde verfinstert ihr Herz.“ Je mehr ein Mensch dem Innenleben sich hingibt, desto weniger wird er fähig, über das Sichtbare zum Unsichtbaren, von dem sinnlichen zum Übersinnlichen sich zu erheben, desto mehr wird der Geist gebeugt, geknechtet unter das Joch der Sonne und des Fleisches. Die Emanzipation des Fleisches hat die Emanzipation des Geistes zur notwendigen Folge; ist das Fleisch nicht mehr dienstbar dem Geist, dann wird es Herr und der Geist Knecht, dienstbar allen Gelüsten des Fleisches. So muss ihm die Idee der Freiheit, da er faktisch sie verloren hat, mehr und mehr verschwinden; wie er selbst, so erscheint ihm nun auch die Gottheit hinein gezogen und verloren in der allgemeinen Naturnotwendigkeit, mehr oder weniger eins mit ihr; die Natur wird Gott und das Urprinzip, aus dem alles hervor gegangen, das in verschiedenen Elementen und Kräften sich äußert, die als eine Reihe Götter niederer Ordnung erscheinen. Noch mehr: in der Sünde selbst liegt schon der Anfang der Abgötterei. Indem der Mensch die Sünde wählt, zieht er die Sünde Gott vor; er macht die Sünde zu seinem Gott, dem er opfert.
Nun löst sich uns das Rätsel der falschen Religionen, wir begreifen die Entstehung des Heidentums; das Herz, hingegeben an die Sinnlichkeit, in sie versenkt und trunken von der Lust und dem Genuss der sichtbaren Welt, will einen Gott, wie es ihn braucht. Und der Geist im Dienst des Lust taumelnden Herzens sucht einen Gott, wie das Herz ihn braucht – sucht ihn in der sinnlichen Welt. Und jetzt ist das Heidentum fertig. Das sinnliche sichtbare Leben wird zur Gottheit erhoben: das ist der gemeinsame Charakter des Heidentums. Die Sünde hatte den Irrtum geboren, wie umgekehrt der Irrtum immer neue Sünden erzeugt, bis die ganze Welt des Heidentums in ihrer furchtbaren Größe, mit alle ihrem Jammer und Gräuel, dastand. War einmal eine Verdunklung des ursprünglichen Gottesbewusstseins, eine selbst verschuldete Entfremdung des Menschen von dem einen lebendigen Gott eingetreten, vermochte der Mensch, selbst unter der überwiegenden Herrschaft der Sinnlichkeit und sinnlicher Lust stehend, also in seiner sittlichen Freiheit geschwächt, auch die Gottheit nicht mehr als ein rein geistiges und übersinnliches, von der Welt verschiedenes, über sie erhabenes, unendliches Wesen zu fassen: dann geschah es unvermeidlich, daß er, mit seinem geistigen Gesichtskreis innerhalb der Naturschranken fest gebannt und abgeschlossen, das angeborene Bedürfnis einer Anerkennung und Verehrung der Gottheit durch die Vergötterung der materiellen Natur zu befriedigen (Apg. 17, 23: „Diesen unbekannten Gott, den ihr verehrt, ohne ihn zu kennen.“) trachtete; … –
aus: Franz Hettinger, Apologie des Christentums, Fünfter Band, 1908, S. 480 – S. 483