Das 16. Jahrhundert für die Päpste
Das Zeitalter des Abfalls von der Kirche – Teil 1 Allgemeine Übersicht
Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Erdteil bewohnte. Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten, geistlichen Reiches. Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte ein Oberhaupt die großen, politischen Kräfte. Wie wohltätig, wie angemessen der inneren Natur der Menschen diese Regierung, diese Einrichtung war, zeigte das gewaltige Emporstreben aller anderen menschlichen Kräfte, die harmonische Entwicklung aller Anlagen, die ungeheure Höhe, die einzelne Menschen in allen Fächern der Wissenschaften, des Lebens und der Künste erreichten und der überall blühende Handelsverkehr mit geistigen und irdischen Waren in den Umkreis von Europa bis in das fernste Indien hinaus… Angewandtes, lebendig gewordenes Christentum war der alte katholische Glaube. Seine Allgegenwart im Leben, seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Humanität, die Unverbrüchlichkeit seiner Ehen, seine menschenfreundliche Mitteilsamkeit, seine Freude an Armut, Gehorsam und treue machen ihn als echte Religion unverkennbar und enthalten die Grundzüge seiner Verfassung.“ So spricht in wehmütiger Erinnerung and die Zeiten vor dem großen Glaubensabfall des 16. Jahrhunderts der edle und geistvolle protestantische Schriftsteller Novalis.
Trotz vieler Übelstände waren es schöne Zeiten. Ein Glaube einigte alle Völker Europas, das ganze Leben war vom Christentum durchdrungen, die Ehe geheiligt, die neu entdeckten Weltteile und Länder boten dem Seeleneifer für die Ausbreitung des Christentums ein großes Feld der Tätigkeit, eröffneten dem Wissensdurst und dem Handel neue Gebiete. In ruhiger Entwicklung hätte die Menschheit ungeahnte Fortschritte machen können. In der Kirche wurden fort und fort Anläufe gemacht, um die religiösen und sittlichen Schäden zu beseitigen; das ganze abgelaufene Jahrhundert zeigte aufrichtige Reform-Bestrebungen. Große Männer traten auf, ernstlich bemüht, nach gründlicher Reform des eigenen Lebens reformierend auf die verschiedenen Klassen der Gesellschaft einzuwirken. Dieses Streben fand seinen Ausdruck in den verschiedenen Ordens- und Klöster-Reformen, wie in den vielen Diözesan-Synoden, die damals abgehalten wurden, um Klerus und Volk sittlich und religiös zu heben.
Im großen und ganzen zeigte sich tief gläubiger religiöser Sinn. Beweis sind die zahlreichen Bibelausgaben, die infolge der Erfindung der Buchdrucker-Kunst stattfanden. Waren doch bis zum Jahre 1500 98 Ausgaben der ganzen Bibel gemacht worden. Ferner waren bis zum Jahre 1518 mindestens 14 vollständige Bibel-Übersetzungen in hochdeutscher und 5 in niederdeutscher Mundart verbreitet. Außerdem gab es viele Übersetzungen verschiedener Teile der Heiligen Schrift. So konnte 1494 schon Sebastian Brant berichten: „All lant synt jetz voll heiliger Geschrift“. Zahlreiche herrliche Gotteshäuser wurden gerade in Deutschland vom 15. bis anfangs des 16. Jahrhunderts teils begonnen, teils vollendet; dieselben verkünden noch jetzt als steinerne Zeugen den christlichen Sinn unserer Vorfahren. Dazu hat der protestantische Gelehrte Geffken nachgewiesen, daß zu jener Zeit mindestens ebenso eifrig gepredigt wurde als in unseren Tagen und daß der Besuch der Predigt den Christen auf das ernsteste zur Pflicht gemacht wurde. Nach den neuesten Forschungen müssen selbst die Protestanten bezeugen, daß in jener Zeit durch Familie und Schule, durch Katechesen und Predigt, durch Schriften und bildliche Darstellungen für die christliche Unterweisung in reichlicher Weise gesorgt war.
Einer weiteren Entwicklung trat Luther durch seinen Abfall von der Kirche entgegen, der den Verlust unzähliger Seelen und namenloses Elend zur Folge hatte und einen Riß in der Christenheit verursachte, der noch heute fortdauert. Doch wie infolge dieses Abfalles der Hinblick auf das 16. Jahrhundert das Herz des Katholiken mit Schmerz erfüllt, erhebt er auch dasselbe mit Trost und Freude. Wir sehen ja auch den wunderbaren Aufschwung, den die Kirche nimmt, und dessen Träger und Mittelpunkt der damals so arg geschmähte Papst ist; wir sehen, wie an ihm das Wort Pauli sich erfüllt: „Wie sterbend und siehe, wir leben“ (2. Kor. 6) Zwei Bilder entrollt uns dieses Jahrhundert: traurig das eine, erhebend das andere, Abfall – Aufschwung, inmitten beider stehen die Päpste. –
aus: Andreas Hamerle C.Ss.R., Geschichte der Päpste, III. Band, 1907, S. 526 – S. 527
Fortsetzung: Ursachen des Glaubensabfalls im sechszehnten Jahrhundert