Ave Maria du bist voll der Gnade

Die Gottesmutter Maria, steht mit gefalteten Händen und mit einem Fuß auf der Schlange

Ave Maria: Maria du bist voll der Gnade

Ist die Welt voll Herrlichkeit Gottes, so ist auch manche Seele voll Herrlichkeit Gottes – in einer Seele heißt man aber die Herrlichkeit Gottes – Gnade, und so war Maria voll der Gnade, die schönste, edelste Menschenseele, in welcher so viel Gnade war, als eine erschaffene Seele fassen und aushalten kann.

Aber ist nicht der Apostel Paulus größer gewesen, welcher ganze Heidenvölker bekehrt hat, und dessen Briefe jetzt noch dastehen und Licht bringen über die Christenheit wie vierzehn ewige Lichter vor dem Tabernakel – oder Petrus, auf den der Herr seine Kirche baute – oder Andreas, der mit Freude sich für Christi Lehre kreuzigen ließ – oder Johannes, der Liebling des Herrn – oder der hl. Franz Xaverius mit seinen wunderbaren Taten in Asien – oder sonst Heilige verschiedener Zeiten? Sag an, wie sieht es da aus?

Sei doch still mit deinen schwächlichen Gedanken und greif Gott nicht ins eine Rechnung! – Was sind alle Taten der Menschen gegen ein reines, göttlich-schönes Herz? Und ein reineres, von Gott durchstrahlteres Herz als das der Maria hat es noch nie gegeben. Den und die und jene Heilige hat der Papst heilig gesprochen – Maria ist aber heilig gesprochen von Gott selber, und zwar nicht erst nach ihrem Tod – der Engel verkündete es im Auftrag Gottes: „Du bist voll der Gnade.“

Sind andere Heilige auch voll der Gnade gewesen gegen ihr Ende zu, so war Maria schon im Anfang ihres Lebens voll der Gnade. Und was sonderbar zu sagen ist: sie war noch mehr als voll der Gnade. – Kann denn ein Lineal das ganz gerade ist, noch gerader werden? Kann eine Kugel, die vollkommen ist, noch runder werden? Kann ein Glas, das ganz angefüllt ist, noch mehr fassen? – Wir wollen sehen.

Es war einmal eine ganz besondere Gesellschaft, in die nur Männer von größter Einsicht und Wissenschaft aufgenommen wurden und wo nur eine gewisse Zahl sein durfte, so daß niemand darin aufgenommen werden konnte, solange die gesetzte Anzahl voll war. Nun meldete sich einmal ein sehr scharfsinniger, weiser Mann bei dem Vorstand der Gesellschaft, um auch Mitglied davon zu werden. Es war aber da gebräuchlich, daß man wenig oder nichts mit Worten redete, wenn man es durch Zeichen sagen konnte. Der Vorsteher ließ ein Gefäß holen und füllte es so mit Wasser an, daß ein einziger Tropfen mehr es überlaufen gemacht hätte. Dieses zeigte er dem Fremden als Antwort auf sein Begehren zum Zeichen, daß die Zahl der Mitglieder schon voll sei. Da legte der Fremde ganz sachte ein Rosenblättchen auf das Wasser, und auf das schwimmende Rosenblättchen setzte er einen Tropfen Wasser in der Weise, daß der Tropfen Wasser über dem Gefäß schwamm, ohne daß es überlief. – Diese sinnreiche Antwort gefiel der Gesellschaft so gut, daß mit dem Fremden eine Ausnahme gemacht wurde, und er dennoch in die Gesellschaft aufgenommen wurde, obschon die Zahl schon vorher voll war.

So hat auch Gott an Maria gezeigt, daß er einer Seele voll Unschuld und Heiligkeit und aller erdenklichen Gnaden doch noch eine Gnade zusetzen könne, an die kein Mensch je von selber gedacht hätte: Gott hat sie zur Mutter seines Sohnes auserlesen; darum ist sie voll der Gnade auf eine Art, wie kein Heiliger auf Erden und kein Engel im Himmel je gewesen ist.

Nun das wäre gut, und deshalb ist unter denen, welche Christen sein wollen, kein besonderer Streit. Aber da hat vor einigen Jahren der Papst zu Rom einen neuen Glaubensartikel in die Welt hinaus verkündigt, nämlich: Maria ist ohne den Flecken der Erbsünde empfangen. Darob hat es ein groß Geschrei gegeben, und die bekannte Bierhaus-Zeitung von Frankfurt, welche von Judenhass gegen die Katholiken besessen ist, hat wie eine Zigeunerin oder Sibylle angefangen zu prophezeien: jetzt gehe es mit der katholischen Kirche zu Ende, sie werde auseinander gehen und zerfallen, wie ein alter Zuber, der keine Reif mehr hat.

Am aller kuriosesten aber ist es, daß Leute gegen den Glaubenssatz von der unbefleckten Empfängnis Mariä gelästert und geheult haben, welche nicht einmal an eine Erbsünde glauben, welche also glauben: sie selber, nämlich diese Bierbäuche seien total ohne Sünde, unbefleckt empfangen. Wir wollen jetzt die Sache gut katholisch auseinander setzen, und zwar deutlich und kurz, wie viele Leser kurze Geduld oder kurzen Verstand haben, besonders in manchen Städten, und zwar gerade in solchen, wo man sich für absonderlich gescheit und aufgeklärt hält.

Die Eva ist ganz anders auf die Welt gekommen, als ich und du. Erstens hat sie keinen Vater und keine Mutter gehabt, und zweitens hat sie keine Sünde auf die Welt gebracht, sondern eine reine, unschuldige Seele. Maria ist in einem Stück der Eva nicht gleich gewesen: denn Maria hat Vater und Mutter gehabt wie andere Menschenkinder auch; hingegen ist Maria darin der Eva gleich gewesen, daß auch ihre Seele vom Augenblick an, wo sie erschaffen worden ist, ganz rein von Sünden blieb, das heißt: Maria ist ohne den Flecken der Erbsünde empfangen. –

Davon steht aber kein Wort in der Heiligen Schrift, sagen solche, welche alles schwarz auf weiß ind er Bibel lesen wollen. Ich sage hingegen: Freilich steht etwas davon in der Heiligen Schrift, du darfst nur deine rostigen Vorurteile beiseite legen und mit Verstand in der Schrift lesen. Dort heißt es, wir seien von Natur Kinder des Zorns, weil wir schon in der Sünde empfangen werden. Deshalb werden auch neugeborene Kinder schon getauft, damit die Befleckung ihrer Seele und das Missfallen Gottes hinweg genommen wird. Zu der Maria hat aber der Engel gesagt: Du bist voll der Gnade. So kann man doch nicht zu einer sündigen Seele, zu einem Kind des Zorns sagen. Wenn die, von welcher der Erlöser kam, nicht einmal die Gnade gehabt hätte, welche Eva, von welcher die Sünde in die Welt kam, bei der Erschaffung hatte, oder die wir in der Taufe bekommen, nämlich eine unbefleckte, reine Seele, so wäre sie doch wahrhaftig nicht voll der Gnade gewesen.

Maria war aber damals nicht getauft, folglich muss sie ursprünglich vor der Erbsünde bewahrt geblieben sein; voll der Gnade sein und zugleich an der Seele befleckt sein, das ist gerade so unmöglich, als dürres Wasser oder ei stummes Geschrei oder eine sonnenhelle Finsternis oder ein gefrorenes Feuer. Maria muss daher wie Eva bei ihrer Entstehung ohne Sünde gewesen sein.

Es ist nach göttlicher Anordnung nicht erlaubt, das heilige Abendmahl, den Leib des Herrn, einem Menschen zu reichen, der nicht vorerst von der Erbsünde gereinigt oder getauft ist: wird nun der heilige Gott selber mit seinem ganzen Wesen in eine Person eingehen, um von ihr menschliche Natur, Fleisch und Blut anzunehmen, wenn diese Person von der Sünde befleckt ist? Gewiss nicht. Das ist aber kein größeres Wunder, wenn Gott sie gleich im beginn ihres Daseins von der Erbsünde ausgenommen hat, als was alle Tage geschieht: daß an den Kindern die Erbsünde durch die Taufe hinweg genommen wird – wie es auch kein größeres Wunder ist, daß Gott die Jünglinge im Feuerofen vor den Flammen unversehrt bewahrt hat, als wenn Gott sie vorerst in den Flammen sterben hätte lassen und dann wieder von den Toten erweckt.

Willst du ein Christ sein und glauben, daß du durch die Taufe von der Erbsünde gereinigt seist, willst du aber nicht an die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria glauben: so hast du den Dünkel, du seiest unbefleckter und reiner als jene war, zu welcher der Engel sprach: „Du bist voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gesegnet unter den Weibern, und das Heilige, was aus dir geboren wird, wird Sohn Gottes genannt werden!“

Aber auch noch in anderer Hinsicht müssen wir glauben, daß Maria ohne Erbsünde empfangen ist. Der Sohn Gottes ist Mensch geworden, aber er ist erschienen als Mann, nicht auch als Weib. Auf diese Weise hat es nun doch einen Mann auf Erden gegeben, der vom Augenblick seiner Empfängnis bis zu seiner Aufnahme in den Himmel stets ohne Sünde geblieben ist, an dem Gott auch keinen Augenblick lang Missfallen haben konnte. Soll es nun im weiblichen Geschlecht keine einzige Person geben, welche auch von Anfang bis zu Ende ohne Sünde war und Gott stets gefallen hat? Eva war im Anfang sündenlos, hat sich aber später mit der Sünde befleckt; alle Nachkommen aber sind wenigstens bis zur Taufe vor Gott unrein durch die Erbsünde. Gerade deshalb, damit auch im weiblichen Geschlecht gleicher Weise wie beim männlichen Geschlecht eine allzeit rein gebliebene Person sei, an der Gott auch nicht einen Augenblick lang Missfallen haben konnte, muss Maria ohne Sünde empfangen sein.

Weil mit Maria der Sieg über den Teufel seinen Anfang nahm, so wird sie abgebildet, eine Schlange unter den Füßen. Und wie bei uns gute Katholiken einander grüßen mit dem Spruch: „Gelobt sei Jesus Christus! In Ewigkeit , Amen“, so grüßen die bestkatholischen Spanier schon seit alten Zeiten einander mit dem Gruß: „Ave Maria, gegrüßt sei, Maria, sin peccado concebida, ohne Erbsünde empfangen!“

Zu was sagen wir aber so oft: Du bist voll der Gnade? Der Engel hat es zu ihr gesagt, weil sie so demütig war, daß sie gar nie gedacht hat, als sei etwas Besonderes an ihr. Und hat es zu ihr gesagt, weil er sicher war, daß sie sich dessen nicht überheben werde. Und wir sagen es zu ihr, nicht als wollten wir ihr schmeicheln, dafür ist sie zu hoch und wir zu nieder, gerade wie wenn ein Haufen Ameisen sagten, da ein Mann an ihnen vorbei zieht, was das für ein großer Ameiserich ist. Und wir sagen nicht so zu ihr, als wüßte sie nicht, was an ihr sei, und wir müssten es ihr erst sagen, als habe sie es gleich wieder vergessen vor schlechtem Gedächtnis: wir sagen es uns selber, um dran zu denken, woher ihre große Herrlichkeit und Hoheit kommt – von der Gnade Gottes.

Und wir sagen es, um eine schöne, süße Tugend zu üben, die Freude an den Gnaden anderer. Wie unendlich schön ist das Auge eines Kindes, wenn es mit Freude ansieht, wie einem andern Kind etwas geschenkt wird! Und das macht uns auch schön vor Gott, wenn wir von herzen uns freuen und von Herzen und in Freude es sprechen, daß Maria voll der Gnade ist. –
aus: Alban Stolz, Das Vaterunser und der unendliche Gruß, Der unendliche Gruß, 1898, S. 26 – S. 31

Über die Marienfrömmigkeit des Autors Alban Stolz gibt es einen schönen Beitrag mit dem Titel: Ein wahrer Marienverehrer

Tags: Maria

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