Heiligenkalender
3. August
Die Auffindung der Reliquien des Erzmärtyrers Stephanus
Vor Gottes heiligem Angesicht liegen alle Geheimnisse offen; vor ihm und durch ihn leben alle seine heiligen, mag sie die Welt auch nicht kennen, er wacht sogar über ihre Gebeine, weil sie sein Eigentum sind und zu seiner Verherrlichung dienen sollen. So hat denn auch Gottes Auge gewacht über die Reliquien des heiligen Erzmärtyrers Stephan und seine allmächtige Hand hat sie bewahrt bis zu dem Tage, wo sie sollten erhoben werden und Zeugnis ablegen, daß Gott wunderbar sei in seinen Heiligen.
Berühmt und verherrlicht war der Name des ersten heiligen Märtyrers Stephan zu den Zeiten der ersten Christen, wie noch heutzutage; aber sein Grabmal war in Vergessenheit gekommen und man wußte nicht, wo seine heiligen Gebeine ruhten. Da gefiel es Gott, auch den Leib seines heiligen Dieners zu verherrlichen und seine heilige Kirche mit neuen Wundern zu erfreuen.
Um das Jahr 415 lebte zu Kaphargamala, einem Flecken, sechs Stunden von Jerusalem entfernt, ein ehrwürdiger Priester, mit Namen Lucian. Dieser schlief am 3. Dezember des Jahres 415 an einem Freitag Abends nach seiner Sitte in der Sakristei der Kirche zum Schutz der Kirchengeräte. Halb erwacht sah er einen ehrwürdigenGreis von hohem Wuchs und wunderbarer Schönheit vor sich stehen. Der Greis hatte einen langen, weißen Bart, ein weißes Kleid mit goldenen Kreuzen besetzt, und in der Hand trug er einen goldenen Stab. Er rief Lucian dreimal beim Namen und befahl ihm, nach Jerusalem zu gehen und dem Bischof Johannes dortselbst zu sagen, daß er kommen soll, das Grabmal zu öffnen, worin seine Überbleibsel und die Überbleibsel einiger anderer Diener Jesu seien, damit Gottes Erbarmungen durch sie verherrlicht würden. Lucian fragte ihn um seinen Namen und der Greis antwortete: „Ich bin Gamaliel, der den heiligen Paulus im Gesetz unterrichtete. An der Morgenseite des Grabmals liegt Stephanus, den die Juden vor dem Stadt-Tor gegen Abend gesteinigt haben. Sein Leib lag dort einen Tag und eine Nacht unbegraben, aber weder die Vögel noch vierfüßige Tiere wagten es, ihn zu berühren. Die Gläubigen nahmen ihn dann auf meine Mahnung während der Nacht und brachten ihn in mein Landhaus, wo ich ihn in mein eigenes Grabmal auf der Morgenseite legte, nachdem ich sein Leichenbegängnis vierzig Tage lang gefeiert hatte. Nikodemus, der in der Nacht zu Jesus kam, liegt auch da, in einem andern Sarg. Da er wegen seines Glaubens an den Heiland von den Ältesten des Volkes seiner Würde entsetzt und aus Jerusalem verbannt worden, nahm ich ihn in mein Landhaus auf, unterhielt ihn daselbst bis an sein Lebensende und begrub ihn nach seinem Tode bei Stephanus. An derselben Stelle habe ich meinen Sohn Abidas begraben, der vor mir, in seinem zwanzigsten Jahr, gestorben ist. Sein Leichnam liegt in dem dritten Sarg, welcher der oberste ist, und in welchen man mich selbst nach meinem Tod beigesetzt hat. Ethna, meine Frau, und Semelias, meine Tochter, die nicht an Christus glauben wollten, wurden an einem andern Ort begraben, der der Kapharsemilia heißt.“ Mit diesen Worten verschwand der Greis.
Lucian wollte nicht leichtgläubig sein, und um nicht als Betrüger zu gelten, flehte er um eine zweite und um eine dritte Erscheinung, damit er sich versichere, ob sie von Gott sei. Deshalb verharrte er Tag und Nacht im Gebet und Fasten. Am folgenden Freitag erschien ihm Gamaliel wieder in derselben Gestalt und befahl ihm zu gehorchen, auch gab er ihm die Verdienste des Heiligen, deren Reliquien er ihm entdeckte, unter dem Bild von vier Körben zu erkennen, die er ihm zeigte. Drei waren von Gold und der andere von Silber. Von den goldenen Körben waren zwei mit weißen Rosen angefüllt, ein anderer mit roten. Im silbernen waren Safranblumen welche einen süßen Wohlgeruch dufteten.
Der Greis deutete auf die Körbe und sprach: „Das sind unsere Reliquien. Diese roten Rosen stellen den heiligen Stephanus vor, der am Eingang des Grabes liegt; der zweite Korb bedeutet den Nikodemus, der bei der Tür liegt; der silberne Korb bezeichnet meinen Sohn Abidas, der vom Mutterleib an unbefleckt geblieben, er steht neben dem meinigen.“
Wieder verschwand der Greis und Lucian wachte auf, dankte Gott und setzte sein Gebet und Fasten fort. Am Freitag der dritten Woche um dieselbe Stunde erschien ihm Gamaliel von Neuem und hielt ihm sein Zögern im Vollziehen seines Befehles vor. Auch setzte er hinzu, daß durch die Entdeckung seiner und der Andern Reliquien die Dürre, welche damals das Land hart heimsuchte, aufhören werde. Lucian erschrak und versprach Folge zu leisten.
Er begab sich nun nach Jerusalem. Der Bischof Johannes, dem er Alles erzählte, weinte vor Freude und hieß ihn die Leiber der Heiligen aufsuchen mit dem Bemerken, er würde sie unter einem großen Steinhaufen bei seiner Kirche finden. Lucian ging nun heim und ließ am anderen Morgen die Bewohner des Fleckens versammeln und unter dem Steinhaufen nachsuchen.
Während er aber an den Ort ging, wo man arbeitete, begegnete ihm Migetius, ein frommer Einsiedler, der ihm sagte, daß ihm Gamaliel erschienen sei und im den Befehl erteilt habe, ihm zu sagen, daß man umsonst unter dem Steinhaufen nachsuche. Er fügte noch bei, Gamaliel habe ihm Folgendes gesagt: „Nach unserer Begräbnisfeier legte man uns dorthin, und der alten Gewohnheit gemäß war dieser Steinhaufen bestimmt, den Schmerz unserer Freunde anzudeuten. Sucht anderswo an einem andern Ort, Debatalia genannt.“ – „Und wirklich“,fuhr Migetius fort, „ich befand mich plötzlich an dem angegebenen Ort und sah da ein altes Grabmal, wo drei mit Gold geschmückte Betten waren. In dem einen, höher als die andern, lag ein Jüngling und ein bejahrter Mann, in den zwei andern waren zwei Männer.“ Da Lucian einen neuen Beweis für die Wahrheit seiner Erscheinung erhalten hatte, verließ er den Steinhaufen und begab sich an den angegebenen Ort. Er ließ die Erde aufgraben und fand drei Särge mit einem stein, worauf in großen Buchstaben folgende Namen gegraben waren: „Cheliel, Nasuam, Gamaliel, Abidas“. – Die zwei ersten Namen sind syrisch und heißen Stephan oder Kranz und Nikodemus oder Volkssieg.
Sogleich berichtete Lucian den ganzen Hergang an den Bischof Johannes, der unverzüglich mit Eutonius und Eleutherius, den Bischöfen von Sebaste und Jericho, sich aufmachte und an die heilige Stätte sich begab.
Als sie den Sarg des heiligen Stephanus öffneten, erbebte die Erde und es verbreitete sich ein unbegreiflicher Wohlgeruch. Eine große Menge Volkes war herbei geströmt, darunter viele Kranke. 73 mit verschiedenen Plagen Behaftete genasen sogleich. Der Leichnam des heiligen Stephanus war in Staub zerfallen, die Gebeine jedoch waren noch ganz und in ihrer natürlichen Lage. Man fand auch darin von seinem Blut. Einige Gebeine ließ man davon zurück für die Kirche von Kaphargamala, die übrigen schloß man in einen Sarg und brachte sie in feierlicher Prozession nach Jerusalem in die Kirche, auf dem Berg Sion, weil dort Stephanus Diakon gewesen. Während der Prozession ergoß sich reichlicher Regen auf das Land, welcher ihm nach langer Dürre die ersehnte Fruchtbarkeit gab. Diese Übertragung der Gebeine des heiligen Stephanus geschah am 26. Dezember, an welchem Tag die Kirche allzeit das Andenken seines Martertodes feiert; am 3. August feiert sie das Fest der Entdeckung seiner Gebeine.
Die Entdeckung dieses kostbaren Schatzes, welche der Priester Lucian selbst beschrieb, übersetzte der Avitus, ein spanischer Priester und vertrauter Freund des heiligen Hieronymus, der sich damals in Jerusalem aufhielt, in das Lateinische und so wurde sie auch im Abendland bekannt. Überall suchten die christlichen Gemeinden einige Reliquien des heiligen Stephan für ihre Kirchen zu erhalten, und so kamen mehrere derselben an verschiedene Orte von Afrika und Spanien. Bei der Übertragung und Aussetzung dieser heiligen Reliquien geschahen überall erstaunliche Wunder. Blinde sahen, Lahme gingen, Kranke wurden gesund, selbst Tote erwachten wieder zum Leben, wovon der heilige Augustin Vieles erwähnt, indem er selbst Augenzeuge war. –
aus: Georg Ott, Legende von den lieben Heiligen Gottes, Bd. 2, 1904, Sp. 1337 – Sp. 1341