P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
§ 1. Von dem Gebet des Herrn
Erklärung der fünften Bitte im Vater Unser
„Vergib uns unsere Schulden“
Was begehren wir in der fünften Bitte: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“?
In der fünften Bitte begehren wir, daß uns Gott alle unsere Sünden verzeihen wolle, wie auch wir denen verzeihen, die uns beleidigt haben.
Nachdem wir um die zur Erlangung der ewigen Seligkeit notwendigen und ersprießlichen Mittel gebeten haben, heißt uns nun Christus auch um Beseitigung der Sünde bitten, die uns an der Erreichung des gedachten Zieles hindert. Die Sünden werden hier mit dem Ausdruck „Schulden“ bezeichnet, weil wir durch jede Sünde eine Schuld auf uns laden, für welche wir der göttlichen Gerechtigkeit Genugtuung zu leisten haben. Die Bitte um Vergebung der Sündenschulden soll jeder Christ an Gott richten, da keiner so gerecht ist, daß er sich nicht als Schuldner Gottes bekennen müßte. „Wenn wir sagen: wir haben keine Sünde“, schreibt der hl. Johannes (1. Br. 1, 8. 9), „so betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. Bekennen wir aber unsere Sünden, so ist Gott getreu und gerecht, daß er uns unsere Sünden vergibt.“ Sind auch dem Gerechten die schweren Sünden, die er begangen haben mag, nachgelassen, so bleibt er doch ohne besondere Gnade nicht lange frei von läßlichen Sünden und hat deshalb jederzeit Grund genug, um Vergebung zu bitten.
Wollen wir aber von Gott Verzeihung erlangen, so müssen wir unsern Mitmenschen die Fehler, die sie gegen uns begangen, gleichfalls verzeihen. Darum beten wir nach der Anweisung Christi: „Vergib uns … wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Auch an ander Stellen macht der göttliche Heiland wiederholt darauf aufmerksam, daß wir nur dann Verzeihung von Gott zu hoffen haben, wenn wir unsern Mitmenschen Verzeihung gewähren. „Vergebt“, spricht er (Luk. 6, 37. 38), „so wird euch vergeben werden …; denn mit demselben Maß, womit ihr meßt, wird euch wieder gemessen werden.“ Mit ganz besonderem Nachdruck aber dringt er darauf (Mark. 11, 25. 26), wo er sagt: „Wenn ihr im Begriff steht, zu beten, so vergebt, wenn ihr etwas gegen jemand habt, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Sünden vergebe. Wenn aber ihr nicht vergebt, so wird euch euer Vater im Himmel auch eure Sünden nicht vergeben.“ –
Und was könnte billiger sein als diese Forderung? Wäre es nicht namenlose Vermessenheit, von Gott zu fordern, daß er uns verzeihe, während wir unserseits andern nicht verzeihen wollten? Hieße das nicht, uns selbst für ein höheres Wesen ansehen, als Gott ist, und eine Gott zugefügte Beleidigung für verzeihlicher halten als eine uns zugefügte? Wer also nicht verzeihen will, der hat auch keine Verzeihung zu hoffen; ein solcher spricht vielmehr über sich selbst das Urteil, so oft er das Vaterunser betet. „Soll ich euch also auffordern“, fragt der hl. Augustin (Rede 56, Nr. 15), „lieber gar nicht zu beten, wenn ihr eure Feinde nicht liebet? Das wag ich nicht; ich sage euch vielmehr: Betet, damit ihr sie lieben möget.“ „Das beste Mittel, bei der Erinnerung an deine Feinde und an das erlittene Unrecht die innere Aufwallung nieder zu kämpfen“, bemerkt der hl. Chrysostomus (Hom. 32, Mauriner Ausg. Bd. III), „ist wohl das Andenken an deine eigenen Sünden und die Furcht vor dem künftigen Gericht. Erinnere dich nur, wie groß deine eigene Schuld gegen den Herrn ist, und daß du für alle deine Sünden Strafe verdienst, und die Furcht hiervor wird all jenen Zorn gegen deinen Nebenmenschen überwinden. Erinnere dich, wenn du betest, an die Hölle, an die ewige Strafe und Pein; dann wird dir dein Feind gewiß nicht mehr in den Sinn kommen… Aber das ist eben die Ursache alles Bösen, daß wir die Vergehen anderer mit der größten Genauigkeit aufspüren, unsere eigenen aber mit der größten Nachlässigkeit außer Acht lassen.“ (Parabel vom unbarmherzigen Knecht, Matth. 18)
aus: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 3, 1912, S. 438-440