P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
Man versündigt sich gegen die Wahrheit durch falschen Argwohn und freventliches Urteilen.
Wie versündigt man sich durch falschen Argwohn und freventliches Urteil?
1. Durch falschen Argwohn versündigt man sich, wenn man ohne hinreichenden Grund vom Nächsten etwas Böses vermutet.
Wer von seinem Nächsten Böses denkt, ohne dieses jedoch für gewiß zu halten, der hat Argwohn. Es gibt einen zweifachen Argwohn, einen gegründeten nämlich und einen ungegründeten. Letzterer heißt falscher Argwohn, nicht weil das, was man argwöhnt, jedesmal falsch ist, sondern weil der Argwöhnende keinen hinreichenden Grund hat, es für wahr zu halten. Wenn z. B. Ein Kaufmann von einem andern wiederholt betrogen worden ist, so hat er guten Grund, zu vermuten, derselbe möchte bei der nächsten besten Gelegenheit ihn wieder zu betrügen suchen: sein Argwohn stützt sich in dem Falle auf einen hinreichenden Grund und ist folglich gerechtfertigt. Hätte sich hingegen jener stets ehrlich bewiesen, und zöge er nichts desto weniger dessen Redlichkeit in Zweifel, etwa weil derselbe in kurzer Zeit ein bedeutendes Vermögen erworben hätte, so wäre sein Argwohn auf keinen hinreichenden Grund gestützt; es wäre ein falscher Argwohn.
Der falsche Argwohn ist seiner Natur nach sowohl der Liebe als auch der Gerechtigkeit zuwider: der Liebe, weil jeder sich gekränkt fühlt, wenn andere ohne Grund Arges von ihm denken; der Gerechtigkeit, weil man dadurch die innere Achtung vor dem Nebenmenschen bei sich selbst unberechtigter Weise antastet; denn wie es der Gerechtigkeit widerstreitet, seinen Nächsten bei andern in der Achtung herunter zu setzen, so widerstreitet es derselben gleichfalls, die Hochschätzung, die ihm von unserer Seite gebührt, zu schmälern. Es liegt ja unserm Nächsten ebenso viel daran, bei uns in gutem Ruf zu stehen als bei irgend einem andern. Der hl. Paulus sagt von der wahren Nächstenliebe: „Sie denkt nichts Arges.“ (1. Kor. 13, 5)
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß man jedem ohne Unterschied und ohne weiteres trauen müsse. Solches widerspräche der christlichen Klugheit. Wäre der Mensch, wie er im Anbeginn aus der Hand Gottes hervor ging, aufrichtig, unschuldig, gewissenhaft, so wäre es allerdings beleidigend, wenn man ihm das volle Zutrauen auch nur einen Augenblick versagte; da aber infolge der Erbsünde soviel Unordnung und Schwäche ins menschliche Herz eingedrungen ist, daß ein jeder sogar sich selbst misstrauen muss, so ist es weder gegen die Liebe noch gegen die Gerechtigkeit, daß man auch im Vertrauen auf die Redlichkeit und Herzensgüte anderer ein vernünftiges Maß halte. Dieses gilt namentlich von Eltern und Vorgesetzten, denen es obliegt, ein wachsames Auge auf ihre Kinder und Untergebenen zu haben. Es ist deshalb ein schwerer Fehler, wenn Eltern im Vertrauen auf die Tugend ihrer Kinder denselben gestatten, geheime Bekanntschaft zu unterhalten, indem sie denken: „Meine Tochter ist brav und der junge Mann auch; es kommt da nichts Unrechtes vor.“ Die Schwäche des menschlichen Herzens und die Macht der Gelegenheit gibt hinriechenden Grund zu fürchten, es könne dabei wenigstens auf die Dauer zu schwerer Sünde kommen. Eine solche Befürchtung, die sich nicht gegen die Person der Kinder, sondern gegen die zum Bösen geneigte Natur richtet, ist weder lieblos noch ungerecht; vielmehr ist sie ein Beweis wahrer elterlicher Liebe und pflichtgemäßer Fürsorge. Gute Kinder werden und müssen dafür dankbar sein. Wie indessen die Klugheit verlangt, andern nicht zu viel Tugend zuzutrauen, so verbietet sie anderseits, stets und in allen Stücken misstrauisch zu sein. Nichts kränkt ein edles Herz empfindlicher, nichts benimmt ihm mehr den Mut und jegliche Schwungkraft zum Besseren als das Bewusstsein, bei jedem Schritt von dem lauernden Auge des Misstrauens verfolgt zu sein.
2. Durch freventliches Urteil versündigt man sich, wenn man ohne hinreichenden Grund das Böse für wahr und gewiß hält.
Das freventliche Urteil kommt mit dem falschen Argwohn darin überein, daß man in beiden Fällen ohne hinreichenden Grund Böses vom Nächsten denkt. Der Unterschied ist bloß dieser: beim falschen Argwohn denkt man, das Böse könnte wohl wahr sein, beim freventlichen Urteil hingegen nimmt man mit Bestimmtheit an, es sei wirklich wahr. Das freventliche Urteil ist demgemäß an sich ein gröberer Verstoß gegen die Liebe und Gerechtigkeit als der falsche Argwohn. Denn offenbar leidet der gute Ruf des Nächsten mehr darunter, wenn ich das Böse für wahr und gewiß halte, als wenn ich es bloß vermute. Beim freventlichen Urteil sitzen wir gleichsam unbefugter Weise zu Gericht über die Absichten und Handlungen unseres Nebenmenschen, urteilen leichtfertig über ihn ab und verdammen ihn.
Vor solchem Richten warnt der Heiland selbst: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Matth. 7, 1); „verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt werden.“ (Luk. 6, 37) Wirklich verdient das überstrenge Gericht, das wir über unseren Nächsten halten, und das leichtfertige Verdammungs-Urteil, das wir über seine Absichten und Handlungen aussprechen, daß auch wir vom göttlichen Richter nach aller Strenge gerichtet werden. Der Grund ist klar: erstens sind wir unbefugte Richter des Nächsten. Oder wer hat dich zum Richter deines Nebenmenschen aufgestellt? „Wer bist du, der du einen fremden Knecht richtest?“ fragt der hl. Paulus (Röm. 14, 4), und der hl. Jakobus (4, 12 u. 13) ruft dir zu: „Es ist nur ein Gesetzgeber und Richter, der zugrunde richten und erlösen kann; du aber, wer bist du, daß du über den Nächsten aburteilst?“ –
Zweitens sind wir Richter ohne Sachkenntnis. Die innern Absichten, die den Nächsten bei seinem Tu und Lassen leiten, kennt niemand als Gott, der allein Herzen und Nieren durchforscht; und selbst in Bezug auf die äußeren Handlungen und deren Umstände trügt uns tausendmal der Schein. Der Hohepriester Heli hielt die betende Mutter des Propheten Samuel für betrunken. (1. Kön. 1, 13) Der Schein hatte ihn getäuscht. Die Juden sagten von den Jüngern Jesu, die nach der Herabkunft des Hl. Geistes voll glühender Begeisterung die Auferstehung des Herrn predigten: „Diese da sind voll süßen Weines.“ (Apg. 2, 13) Auch sie waren vom Schein betrogen.. Die Einwohner von Malta urteilten vom hl. Paulus, dem sich eine giftige Natter an die Hand hängte, als er, eben dem Schiffbruch entronnen, dürres Reisig zum Feuer legen wollte: „Dieser Mensch ist gewiß ein Mörder, den die Rache (Gottes) nicht leben läßt, obschon er dem Meere entkommen.“ (Apg. 28, 4) Sie urteilten so nach dem äußeren Schein und irrten. –
Wir sind endlich durch Leidenschaft verblendete Richter. Darauf macht der Heiland selbst aufmerksam, indem er spricht: „Was siehst du einen Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem Auge siehst du nicht?“ (Matth. 7, 3) Beim freventlichen Gericht über den Nächsten spielt häufig der Neid die Rolle des Anklägers, Lieblosigkeit und Schadenfreude leiten das Verhör, Einbildung und dünkelhafte Selbstgerechtigkeit fällen das Urteil und brechen den Stab über den Nebenmenschen. In der Tat denkt man in der Regel nur deshalb schlecht vom Nächsten, weil man entweder selbst schlecht, oder weil man gegen den Nächsten eingenommen ist. Vor dem Richterstuhl eines neidischen, durch Stolz und Dünkel vergifteten Herzens findet selbst die Tugend des Nächsten keine Gnade. Ist der Nächste andächtig und bescheiden, so hält man ihn für einen Heuchler; ist er freigebig, so nennt man ihn einen Verschwender; ist er sparsam, einen Geizhals; ist er klug und umsichtig, so heißt er ein Ränkeschmied; ist er offen und aufrichtig, so gilt er für unvorsichtig und unklug.
Das Richterauge der Leidenschaft gleicht dem Auge des Gelbsüchtigen, das alle Gegenstände anders gefärbt sieht, als sie sind, weil es selbst nicht ist, wie es sein soll. Das auffallendste Beispiel, wie ungerecht die Leidenschaft den Nächsten beurteilt, bietet uns das Leben des Heilandes selbst. Er, der Heiligste der Heiligen, führte ein so untadelhaftes Leben, daß niemand auch nur das mindeste an ihm aussetzen konnte. Nichts desto weniger schauten ihn die Pharisäer mit scheelen Augen an, nannten ihn einen Sünder, weil er sich der Sünder liebevoll annahm, um sie zu bekehren, einen Fresser und Weinsäufer, weil er sich mit denselben zu Tisch setzte, um ihnen da das Brot des Wortes Gottes zu brechen; sie sagten von ihm, er wirke seine Wunder mit Hilfe des Teufels, und erklärten ihn schließlich des Todes schuldig.
In Betreff des falschen Argwohns und des freventlichen Urteils ist noch zu bemerken, daß sie öfters frei von Schuld sind, weil der Wille keinen Teil daran hat. Wenn man sie missbilligt, sobald man inne wird, daß sie ungegründet sind, so sind sie als bloße Versuchungen zu betrachten, ähnlich wie andere böse Gedanken, die erst zur Sünde werden, wenn man sich derselben bewußt wird und dann freiwillig zustimmt. Handelt es sich aber um bedachten und freiwilligen falschen Argwohn, um bedachtes und freiwilliges freventliches Urteil, so ist schon oben angedeutet worden, daß der falsche Argwohn an und für sich minder sündhaft sei als das freventliche Urteil; denn ersterer macht die gute Meinung, welche wir von andern hatten, nur wankend, durch letzteres hingegen wird dieselbe entweder ganz oder wenigstens teilweise vernichtet. – Was aber das freventliche Urteil insbesondere angeht, so ist es um so sündhafter, je weniger begründet es ist, je bestimmter man es fällt, je länger und hartnäckiger man dabei bleibt, je größer das vergehen und je achtbarer die Person ist, der man es zur Last legt. Auch wird die Sünde des freventlichen Urteils dadurch besonders erschwert, daß man es vor andern ausspricht, woraus dem Nächsten oft großer Schaden entsteht. –Quelle: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 2, 1912, S. 251 – S. 254