Sittlicher Verfall und Sühnepflicht des Christen

Tiara des Papstes, Bischofsstab, Schlüssel

Der sittliche Verfall der Gesellschaft und die Sühnepflicht des Christen

Papst Pius XII. sitzt in seinen päpstlichen Gewändern auf seinem Papststuhl, über ihm das päpstliche Wappen, die Hände hat er auf den Beinen liegen, er hat die Augen geschlossen.

Predigt am Passionssonntag im St. Petersdom: 26. März 1950

Original: italienisch.

Einleitung: Tag der Buße

572 Die spontane innige Frömmigkeit, mit der Ihr an diesem Bußtag hierher geströmt seid, geliebte Söhne und Töchter, konnte Unseren Absichten keine bessere Deutung geben und konnte nicht zufriedenstellender Unseren Herzenswunsch erfüllen, den Wir Euch am Vortage der Eröffnung der Heiligen Pforte anvertraut haben, daß Ihr nämlich mit Eurem Leben und Eurer ganzen Kraft während dieses Heiligen Jahres an der großen geistigen Sühnebewegung teilnehmen möget.
Am heutigen Sonntag eröffnet die Kirche die heilige Passionszeit und läßt in ihrer Trauer erfüllten Liturgie das Drama des göttlichen Sühneopfers der menschlichen Sünden, Jesu Christi, Unseres Herrn, vor den Augen und in den Seelen der Gläubigen wieder aufleben.
Dieser Weltbußtag entspricht wahrhaftig den dringendsten Nöten der Gesellschaft, in der wir leben.

Der sittliche Verfall der heutigen Gesellschaft

Auflösung der natürlichen Sittlichkeit

573 Dem vom Glauben erleuchteten Auge, wie bereits dem Blick jedes ehrlichen Menschen, den das von Vorurteilen und Verirrungen noch nicht verdunkelte natürliche Gewissen führt, worin mit unbeirrbarer Klarheit jenes Gesetz leuchtet, das zum Guten antreibt und vom Bösen abhält, das allen Gesetzbüchern der Welt voran geht und sie alle übertrifft, das Dasselbe unter allen Völkern und zu allen Zeitaltern bleibt und das die Norm alles menschlichen Handelns und die Grundlage der ganzen menschlichen Gesellschaft ist (Vgl. Cicero, De legibus, 1. II c. 4) – diesem Auge kann das bejammernswerte Schauspiel einer Welt nicht entgehen, die in der Auflösung begriffen ist, weil die grundlegenden sittlichen Lebenshaltungen in ihr zerstört sind.
574 Fern von jedem ungerechtfertigten Pessimismus, der im Gegensatz zu der wahren christlichen Hoffnung steht, und als Sohn Unserer eigenen Zeit und keineswegs mit unvernünftiger Sehnsucht an die Vergangenheit gebunden, können Wir dennoch Unsere Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß eine steigende Flut privater und öffentlicher Sünden die Seelen im Schlamm zu ersticken und die gesunde gesellschaftliche Ordnung zu stürzen versucht.
575 Wie jedes Zeitalter sein eigenes Gepräge hat, das allen seinen Werken aufgedrückt ist, so ist auch unser Zeitalter in seiner Schuldhaftigkeit durch eine Reihe vonMerkmalen gekennzeichnet, die sich in der Vergangenheit vielleicht niemals in gleicher Weise zusammen gefunden haben.

Bewußte Entartung

576 Das erste und belastendste Kennmal unserer Zeit ist das Bewusstsein der Verantwortung, das ihre Verstöße gegen das göttliche Gesetz unentschuldbar macht. Bei dem Grad der Erkenntnis und des geistigen Lebens, den alle Schichten der Gesellschaft, wie vielleicht niemals zuvor, erreicht haben und auf den die moderne Kultur so stolz ist, und bei dem lebendigen und eifersüchtigen Gefühl der eigenen persönlichen Würde und der inneren Geistesfreiheit, dessen sich das moderne Bewusstsein rühmt, dürfte eigentlich die Möglichkeit oder der Vorwand der Unwissenheit bezüglich der Normen, welche die Beziehungen der Geschöpfe unter sich und zum Schöpfer regeln, nicht mehr gegeben sein und folglich auch nicht mehr als Entschuldigung gelten. Die Schuld, die zu einem fast allgemeinen sittlichen Niedergang geworden ist, hat selbst Bereiche angegriffen, die früher durch die Tradition vor ihr gesichert waren, wie z. B. die ländlichen Gegenden und das zarte Kindesalter.

Öffentliche Verherrlichung der Unsittlichkeit

577 Eine Reihe schamloser und verbrecherischer Veröffentlichungen bieten die schändlichen Mittel der Verführung und Verderbnis zu Laster und Verbrechen. Sie verbergen die Schande und die Hässlichkeit des Bösen unter dem Schein des Ästhetischen, der Kunst, einer vergänglichen und trügerischen Anmut oder eines falschen Mutes. Sie befriedigen hemmungslos das krankhafte Verlangen nach heftigen Sensationen und neuen Genuss in Ausschweifungen. Die Verherrlichung der Unsittlichkeit hat es so weit getrieben, daß sie sich öffentlich zur Schau stellt und in den Rhythmusdes wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens des Volkes einschaltet, indem sie die schmerzlichsten Wunden und die erbärmlichsten Schwächen der Menschheit zum Objekt einer einträglichen Industrie macht.
578 Man wagt es sogar bisweilen, den niedrigsten Kundgebungen dieses sittlichen Verfalls eine theoretische Rechtfertigung zu geben, indem man an einen Humanismus zweifelhafter Sorte oder an ein Mitleid appelliert, das die Schuld mit Nachsicht behandelt, um so die Seelen leichter zu betrügen und zu verderben. Ein falscher Humanismus und eine antichristliche Nachsicht, die schließlich, die schließlich dahin führen, daß die Stufenordnung der sittlichen Werte umgestürzt und das Empfingen für die Sünde so weit abgeschwächt wird, daß sie geradezu anständig erscheint, indem man sie als die normale Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten und als Bereicherung der eigenen Persönlichkeit darstellt.
579 Es bedeutet ein Verbrechen gegen die Gesellschaft, wenn man der Sünde unter dem Vorwand humanitären Gefühls, bürgerlicher Toleranz oder natürlicher menschlicher Schwäche Bürgerrecht gibt, indem man allem freien Lauf läßt, oder noch schlimmer, indem man sich darauf verlegt, bewußt die Leidenschaften zu erregen, jede aus der elementaren Achtung der öffentlichen Sittlichkeit und des öffentlichen Anstandes sich ergebende Hemmung zu lockern und de Bruch des Ehebandes, die Aufruhr gegen die öffentlichen Autoritäten, den Selbstmord oder das Verbrechen gegen das Leben anderer mit den verführerischsten Farben darzustellen.
580 Ohne Zweifel anerkennen Wir mit einem von zärtlichem Mitleid erfüllten Herzen die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, besonders unter den gegenwärtigen geschichtlichen Verhältnissen. Wir anerkennen das Elend, die Verlorenheit das zwangsweise Zusammenleben der Geschlechter in düsteren, elenden Hütten als eine der ernsten Ursachen der Unsittlichkeit. Aber der Mensch besitzt immer einen freien Willen und ist Herr seiner Handlungen, und er verfügt immer über die übernatürliche Hilfe der Gnade, die Gott niemandem verweigert, der ihn vertrauensvoll anruft.

Der Christ gegenüber dem sittlichen Verfall

Gläubiges Nachdenken

581 Und nun, wenn Euer Auge und Euer Geist noch nicht versagen, ermeßt mit der Demut desjenigen, der sich vielleicht teilweise selber für verantwortlich erklären muss, die Zahl, die schwere, die Häufigkeit der Sünden in der Welt. Die Sünde, die das eigene Werk des Menschen ist, verpestet die Erde und schändet mit Schmutz das Werk Gottes. Denkt an die unzählbaren privaten und öffentlichen Sünden, verborgenen und offenkundigen, an die Sünden gegen Gott und seine Kirche, die Sünden der Menschen gegen sich selbst an Seele und Leib, gegen den Nächsten und besonders gegen die schwächsten und ungeschütztesten Geschöpfe, an die Sünden endlich gegen die Familie und die menschliche Gesellschaft. Einige davon sind so unerhört und so grausam, daß man neue Worte für sie hat erfinden müssen. Bedenkt ihre Schwere, die Schwere der Sünden aus einfachem Leichtsinn, und derjenigen, die mit Wissen vorsätzlich und kaltblütig verübt werden, jener, die ein einzelnes Leben zugrunde richten oder die sich zu ganzen Ketten von Bosheiten vermehren, bis sie zu Ruchlosigkeiten von Zeitaltern oder zu Verbrechen gegen ganze Völker werden. Stellt im durchdringenden Licht des Glaubens diese ungeheuerliche Menge an Niedertracht und Verruchtheit der leuchtenden Heiligkeit Gottes gegenüber, der Größe des Zieles, zu dem der Mensch geschaffen wurde, den christlichen Idealen, für die der Erlöser Leiden und Tod übernommen hat. Und dann sagt, ob Gott in seiner Gerechtigkeit eine derartige Entstellung seines Bildes und seiner Ansichten noch länger ertragen kann, einen solchen Missbrauch seiner Gaben, eine solche Verachtung seines Willens, und vor allem eine solche Verhöhnung des unschuldigen Blutes seines Sohnes.

Aufforderung zur Buße

Als Stellvertreter Jesu Christi, der sein Blut zur Versöhnung der Menschen mit dem himmlischen Vater bis zum letzten Tropfen vergossen hat, als das sichtbare Haupt der Kirche, die sein mystischer Leib ist zum Heil und zur Heiligung der Seelen, ermahnen Wir Euch zu Gedanken und Werken der Buße, damit durch Euch, durch alle Unsere Söhne und Töchter, die über die ganze Erde zerstreut sind, der erste Schritt zu einer wirksamen sittlichen Wiederherstellung der Menschheit getan werde. Mit der ganzen Glut Unseres väterliches Herzens bitten Wir Euch, Eure begangenen Vergehen aufrichtig zu bereuen, die Sünde voll und ganz zu verabscheuen, den festen Vorsatz zu fassen, Euch zu bessern. Wir beschwören Euch, Euch die göttliche Verzeihung durch das Sakrament der Buße und das Testament der Liebe unseres göttlichen Erlösers zu sichern. Und schließlich flehen Wir Euch an, die Schuld der zeitlichen Strafen, die Ihr wegen Eurer Sünden verdient habt, durch vielfältige Bußwerke abzutragen, durch Gebet, Almosen, Fasten, Abtötung, wozu das Heilige Jahr Euch jetzt leichte Gelegenheit bietet und Euch einlädt. Auf diesem Wege kehrt die Seele in die Arme des göttlichen Vaters zurück, ersteht neu in der heiligmachenden Gnade, fügt sich wieder in die Ordnung und in die Liebe ein und versöhnt sich mit der göttlichen Gerechtigkeit. Das ist die große Rückkehr der aufständischen Menschheit zu den Gesetzen Gottes und der Kirche, die Wir in vertrauensvoller und hoffnungsfreudiger Erwartung ersehnt haben und beschleunigen möchten durch Unsere Wünsche, durch die Seufzer Unseres Herzens, durch Unsere Gebete, durch Unsere Opfer, durch eine weitgehende Ausspendung des unerschöpflichen geistigen, Uns anvertrauten Schatzes der Kirche.

Freude in der Buße

583 Fürchtet nichts für die heitere Freude Eures Lebens, als ob der Ruf zur Buße einen Schleier finsterer Traurigkeit über Euch ausbreiten würde. Die Verleugnung des eigenen Ichs ist so weit davon entfernt, daß sie im Gegenteil die unerläßliche Bedingung der innigen Freude ist, die Gott denen bestimmt hat, die ihm hienieden dienen. Ja, Wir möchten in derselben ängstlichen Sorge, in der Unser herz sich für Eure Besserung verzehrt, ohne Zögern Euch mit dem heiligen Apostel Paulus ermahnen: „Freuet euch immer im Herrn, noch einmal sage ich, freuet euch“ – „Gaudete in Domino semper, iterum dico, gaudete“ (Phil. 4, 4).
584 In diesem Geist haben Wir oft die Stimme erhoben zu Gunsten der Notleidenden und der durch schlimme wirtschaftliche Verhältnisse Bedrückten, die selbst der zum Leben notwendigsten Dinge elend beraubt sind, indem Wir eine wirksamere Gerechtigkeit angerufen und gefördert haben. Allerdings ist auch in dem christlichen Bild einer Gesellschaft, in der der Reichtum besser verteilt ist, immer noch Raum für Entbehrung, Not und Leiden, die das unvermeidliche, aber fruchtbare Erbe hienieden sind. Und auch die stärkste Freude, die ein menschliches Herz auf dieser Erde verkosten oder wünschen kann, wird und muss immer noch übertroffen werden durch die Hoffnung der zukünftigen und vollkommenen Glückseligkeit: „Spe gaudentes“ – „Freude in Hoffnung“ (Röm. 12, 12).
Nehmt Ihr dagegen die materialistische Welt Anschauung mit dem Traum eines vollkommenen, schon auf dieser Erde als Ziel und Zweck des Lebens verwirklichten Glückes an, so werdet Ihr sehen, wie das Streben nach der Gerechtigkeit oft nur zur blinden Selbstsucht und das erreichte Wohlergehen ein Rennen zum Hedonismus bedeutet. Gerade aber der Hedonismus, d. h. die atemlose Suche nach jeder irdischen Freude, das verzweifelte Bemühen, schon hienieden um jeden preis das ganze Glück zu erlangen, die Flucht vor dem Leiden als dem größten Unglück, die Befreiung von allen mühsamen Pflichten, alles dieses macht gerade das Leben traurig und fast unerträglich, weil es rings um den Geist eine tödliche Leere schafft. Keinen anderen Grund läßt das Anwachsen der törichten Auflehnungen gegen das Leben und seinen Urheber erkennen, weil man mit antichristlichem Anspruch jedes Leiden aus ihm ausschließen will.
585 Das Leben zu ertragen verstehen, das ist die erste Buße jedes Christen, die erste Bedingung und das erste Mittel zur Heiligkeit und zur Heiligung. Umfaßt mit fügsamer Ergebung, die dem eigen ist, der an einen gerechten und guten Gott und an Jesus Christus, den Herrn und Führer der Herzen glaubt, mutig das tägliche, oft schwere Kreuz. Es mit Christus tragen, heißt sein Gewicht leichter machen.

Buße als Sühne für die Mitmenschen

586 Aber die besonders schweren Verhältnisse der gegenwärtigen Stunde stoßen den Christen dringender als je darauf, an sich das zu vollenden, was am Leiden Christi noch fehlt (Vgl. Kol. 1, 24), nicht nur in der Absicht, immer besser die Übeltat wieder gut zu machen und ein immer sichereres Zeichen und einen immer zuverlässigeren Beweis für die Aufrichtigkeit der Umkehr zu geben, sondern auch um zum Heil der Erlösten beizutragen.
Mögen sich zu diesem Zweck alle Christen, die büßenden und die unschuldigen, die im Wollen und Vollbringen der heilsamen Sühne verbrüdert sind, sich mit dem obersten Hirten der Seelen und ihrem einzigen Erlöser, Jesus Christus, dem Opferlamm, das die Sünden der Welt hinweg nimmt, vereinigen. Er ist auf unseren Altären gegenwärtig, um zu jeder Stunde das Opfer von Golgotha zu erneuern. Mit ihm und in der Kraft seiner Gnade soll an diesem heiligen Tage das Heer der Seelen, die in der unabmeßbaren Kirche Gottes Sühne leisten, ans Werk gerufen werden. Die Leiden, die mit christlicher Ergebenheit bereitwillig angenommen oder mit freiem Großmut erwählt werden, werden der in Verfall geratenen Menschheit ein christliches Antlitz wiedergeben und auf der Waage der göttlichen Gerechtigkeit ein heilsames Gegengewicht gegen die Verbrechen der Menschen bilden.

Gebet an den Gekreuzigten

587 Ja, gekreuzigter Jesus, du hast die menschliche Natur vergöttlicht, indem du sie selber annahmst. Du hast, nachdem du die Gerechtigkeit, die Liebe und Güte gepredigt und aus dem, was reich und mächtig ist, Kraft für den Armen und Schwachen gemacht hast, durch dein Leiden und deinen Tod dem Menschengeschlecht Rettung und das Heil gebracht. Wende nun deinen liebevollen Blick diesem Volk zu, das sich mit den Gläubigen der ganzen Welt im Geist der Buße zu deinen Füßen niederwirft und dich um Verzeihung bittet zugleich für all die Unglücklichen, die dich im armseligen Hochmut ihres Verstandes und in der unfruchtbaren Wollust ihres Fleisches entthronen und entweihen möchten. Herr, rette uns, damit wir nicht untergehen. Glätte die Wogen des erregten Meeres unseres Geistes. Sei unser Gefährte im Leben und im Tode und unser barmherziger Richter. Möge der Blitz wohlverdienter Strafen einer neuen, weitherzigen Ausgießung deines Erbarmens über die erlöste Menschheit weichen. Lösche aus den Haß, entfache die Liebe, zerstreue mit dem mächtigen Atem deines Geistes die Gedanken und die Begierden nach Herrschaft, Zerstörung und Krieg. Gib den Kleinen Brot, den Obdachlosen ein Heim, den Arbeitslosen Arbeit, den Völker Eintracht, der Welt den Frieden und allen den Lohn der ewigen Seligkeit. Amen. –
aus: Utz OP/Groner OP, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., Bd. I, 1954, S. 255 – S. 262

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