Betrachtung über die Verleugnung des eigenen Willens
Betrachtung zum 15. Januar
„Wenn du deiner Seele ihre Lüste gewährst, macht sie dich zum Hohn deiner Feinde.“ (Ekkli. 18,31)
Erwäge, daß deine Feinde, die Teufel nämlich, an nichts größere Freude haben, als wenn sie sehen, daß du deiner Seele nämlich deinen Willen so gerne willfahrest. Sie wissen, daß dies jenes unbändige Roß ist, welches dich bald in den Abgrund stürzen wird; und deshalb triumphieren sie, wenn sie sehen, daß du ihm so leicht die Zügel schießen läßt. Darum mußt du dich gewöhnen, deinen Willen auch in erlaubten Dingen zu verleugnen; denn sonst wirst du leicht vom Erlaubten um Unerlaubten übergehen.
Betrachte, daß diese Verleugnung des eigenen Willens eine Pflicht sei, die ohne Ausnahme ununterbrochen fortdauert. Das Fasten hat seine bestimmte Zeit, ebenso die Züchtigung des Leibes und die Betrachtung; aber die Verleugnung des eigenen Willens ist zu jeder Zeit notwendig. Denn zu welcher Zeit bedarf ein Pferd, zumal wenn es noch ungezähmt ist, nicht des Zügels?
Erwäge, daß du deshalb nicht erschrecken darfst, als ob dies so überaus schwierig und hart wäre. Im Gegenteil, von Tag zu Tag wird es dir leichter gehen. Das Beispiel vom Pferd soll dich dessen belehren. Es hält schwer, dasselbe zu bändigen, zu leiten und zu lenken, nachdem man ihm lange Zeit Freiheit gelassen hat: „Ein unbändiges Pferd wird unlenksam“ (Eccli. 30,8). Aber wenn es sich einige Zeit hindurch an den Zügel gewöhnt hat, so kostet es nicht mehr so viel Anstrengung. Dieselbe Bewandtnis hat es mit dem Willen. Wenn er merkt, daß er, was er verlangt, nicht erlangen kann, so verlangt er zuletzt nichts Anderes mehr, als was ihm gewährt werden kann. –
aus: Paul Segneri S.J., Manna oder Himmelsbrod der Seele, 1853, Bd. I, S. 30 – S. 31