Pflicht und Ordnung der Nächstenliebe

Die Gebote der göttlichen Tugenden – Die Liebe

Dritter Artikel

Die Nächstenliebe

§ 1 Pflicht und Ordnung der Nächstenliebe

I. Die Pflicht der Nächstenliebe

1. Im allgemeinen ist man verpflichtet, wegen Gott auch alle Geschöpfe zu lieben, welche der Gnade und ewigen Glorie teilhaftig werden können.

Hierher gehören die Engel und Heiligen im Himmel, die armen Seelen im Fegefeuer, Gerechte und Sünder auf Erden, nicht aber die Verdammten in der Hölle.
Gut ist auch die sittliche Tugend der Nächstenliebe, die darin besteht, daß wir den Nächsten lieben, weil es etwas natürlich Ehrbares ist.

2. Im besonderen erstreckt sich die Pflicht der Nächstenliebe auch auf die Feinde.

a) Verzeihung ist daher eine Pflicht, selbst wenn der Feind nicht um Verzeihung bittet.

Feindschaft, Haß, Rachsucht, Verwünschungen sind schwere Sünden, wenn es sich um bedeutende Dinge handelt. – Nicht zu verwechseln hiermit aber ist eine gewisse natürliche Abneigung noch der Unwille oder Abscheu über eine schlechte oder schädliche Handlung oder Eigenschaft des Nächsten. – Verwünschungen sind aber keine schweren Sünden, wenn dabei (z. B. wegen der Aufregung) die entsprechende Aufmerksamkeit mangelt, oder wenn es einem damit nicht recht Ernst ist, oder wenn nur ein kleines Übel in Betracht kommt. – Im Interesse des Nächsten oder eines entsprechend großen Gutes darf man dem Nächsten auch ein Übel, ja sogar den Tod wünschen, z. B. damit ein junger, leichtsinniger Mann nicht auf Abwege kommt und so ewig verloren gehe, oder damit ein Familienvater nicht das ganze Vermögen vertrinke.

Der Beleidiger ist verpflichtet, den anderen um Verzeihung zu bitten. Haben sich zwei gegenseitig beleidigt, dann muss an sich derjenige zuerst um Verzeihung bitten, der den anderen zuerst oder schwerer beleidigt hat; am besten aber rät man es beiden an. – Die Bitte um Verzeihung muss nicht immer ausdrücklich gestellt werden; in manchen Fällen kann sie auch enthalten sein in einer besonderen Auszeichnung, zuvorkommenden Gruß usw.

Der Beleidigte ist verpflichtet, sich um Wiederversöhnung zu bemühen, wenn sonst der andere im Stande der Todsünde bliebe oder Ärgernis entstehen würde.

b) Auch äußere Kundgebung der Verzeihung durch Erweisung der allgemeinen Liebesbezeigungen ist notwendig.

Die allgemeinen Liebeserweise sind verschieden nach Ort und Zeit und Personen, z. B. zwischen Geschwistern, Verwandten, angestellten bei derselben Familie, Einwohnern desselben Ortes, Mitschülern, Mitbrüdern oder Mitschwestern usw. – In manchen Gegenden ist der Gruß ein allgemeines Zeichen der Liebe, in anderen Gegenden nicht. – Beantwortet der andere diese allgemeinen Liebesbezeigungen z. B. den Gruß nicht, so ist man auch vorerst nicht mehr verpflichtet, sie ihm zu erweisen.

α) Schwere Sünde ist die Verweigerung der gewöhnlichen Liebeserweise, wenn es geschieht aus schwerem Haß, oder wenn der andere dadurch schwer betrübt wird, oder wenn schweres Ärgernis daraus entsteht.

Seinem Feinde aus dem Weg zugehen, nur um sich nicht unnötig zu ärgern, ist an sich keine Sünde, wenn daraus kein Ärgernis und kein Kummer für den Nächsten entsteht. Wenn zwei Nachbarn oder zwei Mitschwestern aus einer leichten Verstimmung heraus einige Zeit nicht mehr miteinander sprechen oder einander nicht mehr grüßen, so ist es keine schwere Sünde.

β) Erlaubt kann die zeitweilige Verweigerung der gewöhnlichen Liebeserweise sein, wenn ein entsprechender Grund vorliegt und kein Ärgernis entsteht.

Derartige Gründe sind: Besserung oder gerechte Bestrafung des anderen, ferner Kundgebung des durch die Beleidigung verursachten großen Schmerzes.

c) Auf Satisfaktion oder Schadenersatz aber braucht man nicht zu verzichten.

Trotzdem daher der andere um Verzeihung bittet, darf man ihn gerichtlich belangen, aber nicht aus Haß. – Verzichten aber muss man auf die Wiedergutmachung, wenn der eigene Schaden ein unbedeutender ist, der andere aber bei Wiedergutmachung einen unverhältnismäßig großen Schaden auf sich nehmen müsste.

d) Zu besonderen Liebesbezeigungen verpflichtet die Feindesliebe nicht, auch dann nicht, wenn man früher sich gegenseitig solche erwies. – In Ausnahmefällen aber kann man dazu doch auf andere Gründe hin verpflichtet sein.

Letzteres trifft zu, wenn aus der Verweigerung Ärgernis entsteht, oder wenn durch ihre Erweisung der andere voraussichtlich zur Sinnesänderung käme. Große Opfer aber muss man zu diesem Zwecke nicht auf sich nehmen.

II. Die Ordnung

die wir bei der Nächstenliebe einhalten müssen, wird bestimmt durch die Notlage des Nächsten und unsere Beziehungen zu ihm.

1. Die Notlage des Nächsten kann sein eine seelische oder irdische, beide können wiederum sein eine äußerste, schwere oder leichte Not.

In äußerster Not befindet sich jemand, wenn er ohne fremde Hilfe überhaupt nicht oder nur äußerst schwer dem ewigen oder zeitlichen Tod entgehen kann. Damit verwandt ist die Notlage von jemandem, der in großer Gefahr ist, in äußerste Not zu kommen, oder der ohne fremde Hilfe kaum einem schweren, lang andauernden Übel entgehen kann, z. B. schwerem Kerker, Verlust des Vermögens oder des Standes usw.

In schwerer Not ist jemand, der sich ohne fremde Hilfe nur schwer vor der ewigen Verdammnis bewahren kann oder der ein schweres irdisches Leid erduldet, das aber nicht lange dauert, oder zwar lange dauert, aber nicht so überaus schwer ist.

In leichter Not ist jemand, der von einem leichten Übel bedroht ist oder von einem großen Übel, dem er aber leicht entgehen kann.

a) In äußerster seelischer Not muss man dem Nächsten helfen und zwar auch mit Lebensgefahr.

Mit Lebensgefahr muss man aber nur dann helfen, wenn sichere Hoffnung besteht, den Nächsten durch diese Hilfe zu retten, und wenn kein anderer da ist, der ihm helfen könnte und wollte, und wenn endlich durch diese Hilfeleistung nicht viele andere in Gefahr kommen, ihr ewiges Heil zu verlieren. – Praktisch wird man deshalb eine Mutter nicht verpflichten können, den Kaiserschnitt vornehmen zu lassen, damit das Kind sicher gültig getauft werden könne; die Gründe sind folgende: es ist probabel, daß auch die Taufe im Mutterleib gültig ist; es ist nicht gewiß, daß das Kind lebend zur Welt komme, noch daß es gerettet werde, wenn es als Erwachsener stirbt. – Eine Todsünde oder läßliche Sünde zur Rettung anderer zu begehen ist niemals erlaubt, weil das Wohlgefallen Gottes allen anderen Dingen vorzuziehen ist.

b) In äußerster leiblicher Not muss man dem Nächsten helfen auch mit großem persönlichem Nachteil, nicht aber mit Lebensgefahr, außer man sei von Amts wegen dazu verpflichtet, oder das Allgemeinwohl verlange die Rettung des bedrohten.

Von Amts wegen hat die Pflicht z. B. ein angestellter Arzt. – Erlaubt und tugendhaft ist es aber, sich aus einem übernatürlichen Beweggrund einer Lebensgefahr auszusetzen, um das Leben des Nächsten zu retten.

c) In schwerer seelischer oder leiblicher Not muss man helfen, soweit es ohne großen Nachteil geschehen kann; mit großem Schaden nur dann, wenn man von Amts wegen, aus Gerechtigkeit oder aus Pietät dazu verpflichtet ist.

Daher müssen z.B. Pfarrer auch mit großem Nachteil ihren Pfarrkindern geistige Hilfe leisten, wenn dieselben sonst nur mit großer Schwierigkeit die ewige Seligkeit erlangen könnten.

d) Bei gewöhnlicher seelischer oder leiblicher Not braucht man nicht jedem einzelnen Nebenmenschen zu helfen.

Man darf aber auch nicht so gesinnt sein, daß einem anderen in derartiger Notlage niemals hilft; man muss vielmehr manchmal auch andere unterstützen, wenn es mit geringem Nachteil geschehen kann. – Man darf aber im Interesse des geistigen oder leiblichen Wohles des Nächsten sogar auf große geistige Güter verzichten, die zur Erlangung der ewigen Glückseligkeit nicht nötig sind, z. B. den Eintritt ins Kloster verschieben, alle seine guten Werke für die armen Seelen aufopfern, sich der entfernteren Gefahr zur Sünde aussetzen.

2. Unsere Beziehungen zum Nächsten verpflichten uns, bei gleicher Notlage zuerst jenen Personen zu helfen, die enger mit uns verbunden sind.

Da aber die einzelnen Verbindungen auch verschieden begründet sind, z. B. durch Teilnahme an derselben Abstammung, an derselben Rasse, an derselben Religion, so müssen wir den Nächsten den anderen vorziehen nur in Bezug auf jene Güter, auf welchen die jeweilige Verbindung beruht. Da aber die Blutsverwandtschaft die Grundlage jeder anderen Verbindung ist, so gehen auch die Blutsverwandten (wenigstens des ersten Grades) bei gleicher Not allen anderen vor. – Die Reihenfolge ist demnach folgende: der andere Eheteil, Kinder, Eltern, Geschwister, die übrigen Verwandten, Freunde usw. In äußerster Not aber müssen die Eltern allen anderen vorgezogen werden, weil wir von ihnen das Dasein haben. –
aus: Heribert Jone OMCap, Katholische Moraltheologie, 1931, S. 104 – S. 108

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