Jesus vor den Hohenpriestern Annas und Kaiphas

Jesus mit dem Rohr in der Hand, auf der rechten ist Judas zu sehen

Jesus vor Annas und Kaiphas

Die Rotte führte Jesus (1) zum Haus des Hohenpriesters, und zwar zuerst zu Annas (2); denn dieser war der Schwiegervater des Kaiphas, der Hoherpriester war in jenem Jahr. Kaiphas aber war es, der den Juden den Rat gegeben hatte: „Es ist gut, daß ein Mensch sterbe für das Volk.“ (3)

Der Hohepriester (Annas) nun fragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre. (4) Jesus antwortete ihm: „Ich habe öffentlich vor der Welt geredet. Ich habe immer in der Synagoge (5) und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammen kommen, und habe nichts im Verborgenen (6) geredet. Warum fragst du mich? Frage die, die gehört haben, was ich zu ihnen redete; siehe, die wissen, was ich gesagt habe!“ (7) Als er dies gesprochen, gab einer von den Dienern, der dabei stand, Jesus einen Backenstreich mit den Worten: „So antwortest du dem Hohenpriester?“ (8) Jesus erwiderte ihm: „Habe ich unrecht geredet, so beweise das Unrecht; habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?“ Annas schickte nun Jesus zu Kaiphas, bei dem sich mittlerweile der Hohe Rat versammelt hatte.

Der Hohepriester (Kaiphas) aber und der ganze Hohe Rat suchten nun falsches Zeugnis wider Jesus, um ihn dem Tode zu überliefern; sie fanden aber keines, obwohl viele falsche Zeugen auftraten; denn die Aussagen derselben stimmten nicht überein. Zuletzt kamen noch zwei falsche Zeugen und sprachen: „Wir haben gehört, daß dieser sagte: Ich kann den Tempel Gottes nieder reißen und in drei Tagen wieder aufbauen. Ich werde diesen von Menschenhänden gemachten aufbauen.“ Und auch ihr Zeugnis war nicht übereinstimmend. (9)

Da stand der Hohepriester auf, trat in die Mitte und fragte: „Antwortest du nichts auf das, was diese gegen dich bezeugen?“ Jesus aber schwieg und antwortete nichts. Wiederum befragte ihn der Hohepriester und sprach zu ihm: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sage uns, bist du Christus, der Sohn Gottes, des Hochgebenedeiten?“ (10) Jesus aber sprach zu ihm. „Du hast es gesagt! Ja, ich bin es! (11) Und ich sage euch, von nun an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Kraft Gottes sitzen (12) und auf den Wolken des Himmels kommen sehen!“ (13) Da zerriß der Hohepriester seine Kleider und sprach: „Er hat Gott gelästert! Was brauchen wir noch Zeugen? Ihr habt ja eben selbst die Gotteslästerung gehört; was dünkt euch?“ Da riefen alle: „Er ist des Todes schuldig!“ (14)

Welch ein Augenblick und welch ein Urteil! Gottlose Richter stehen dem gegenüber, auf dessen Reinheit und Unschuld sie nicht den leisesten, kleinsten Makel bringen können. Auf die unter feierlichster Anrufung des Namens Gottes gestellt Frage, ob er der verheißene, vom ganzen Volk erwartete Messias, der Sohn Gottes sei, antwortete Jesus auf das bestimmteste: „Ja, ich bin es!“ Er hatte seine Aussage schon längst bewiesen durch die größten Wunder, insbesondere durch die, welche die Propheten als Kennzeichen des Messias angegeben, und noch vor kurzem durch die Auferweckung des Lazarus. Dennoch, anstatt durch die Antwort aufs tiefste erschüttert zu werden, wagt ein Kaiphas zu rufen: „Er hat Gott gelästert!“ und wagt der ganze Hohe Rat beizustimmen durch den Ruf: „Er ist des Todes schuldig!“ Welch ein Abgrund von Blindheit und Bosheit!

(1) Jesus hatte jetzt genugsam mit Worten und durch die Tat gezeigt, daß er sich vollkommen freiwillig seinen Feinden überlasse. Nun trat er (etwa zwischen 12 und 1 Uhr nachts) seinen ersten Leidensweg an.
(2) Annas, wenn auch als Hohepriester abgesetzt, hatte offenbar immer noch einen maßgebenden Einfluß auf die Führung des hohenpriesterlichen Amtes. Kaiphas, der amtierende Hohepriester, mochte die Vorführung Jesu vor seinen Schwiegervater angeordnet haben, weil er hoffte, daß dieser schlaue Mann durch eine Voruntersuchung dem Heiland noch allerlei Antworten entlockte, die man in der Gerichtsverhandlung verwerten könne. Nach Joh. 18,13-24 muss man wohl das folgende Vorverhör dem Annas zuweisen; daß Johannes den Annas als „Hohenpriester“ bezeichnet, macht keine Schwierigkeit; denn, obwohl nicht mehr im Amt, führte er doch noch diesen Titel. Die erste Verleugnung des Petrus läuft dem dem Vorverhör Jesu durch Annas parallel. Die ganze Darstellung der Evangelien über die Verleugnung des Petrus macht es im höchsten Grade wahrscheinlich, daß, wie schon Euthymius bemerkt, Annas und Kaiphas in demselben Palast residierten, und daß der Hofraum beider Wohnungen derselbe war; besonders der Vergleich von Joh. 18,18 mit 18,25 lehrt, daß er die Identität des Ortes voraussetzt, an dem sich Petrus vor und nach der Abführung Jesu von Annas zu Kaiphas aufhält. Wir denken uns den Palast etwa so, wie Bild 60 zeigt.

Eine Grundriss des Hauses von Kaiphas, Wohnung des Kaiphas wie des Annas; innerer Hof und äußerer Vorhof

(3) Johannes erinnert hiermit nochmals daran, daß Christus sein Leiden zur Genugtuung für uns übernommen.
(4) Die Verurteilung und der Tod Jesu war schon längst beschlossene Sache, die ganze Gerichtsverhandlung leerer Schein. Jesus, die ewige Weisheit, ließ durch seine Antworten wie durch sein Schweigen die Heuchelei und Ungerechtigkeit seiner Richter ganz offen zu Tage treten. Erst wollen sie, daß der Angeklagte gegen sich selbst Zeugnis ablege; er verweist sie auf ihr eigenes Unvermögen, das geringste wider ihn aufzubringen. Dann versuchen sie es mit falschen Zeugen; diese widerlegen sich selbst gegenseitig, und Jesus würdigt den fragenden Hohenpriester keiner weiteren Antwort. So bleibt diesem nichts übrig, als die furchtbare Frage zu stellen, die er so gern vermieden hätte: „Bist du Christus etc.“ Dadurch wurde aller Welt offenbar, wofür Jesus starb, nämlich für sein durch die größten und zahlreichsten Wunder wie durch die Heiligkeit seines Lebens beglaubigtes Zeugnis, daß er der Sohn Gottes sei, der aus Liebe zu den Menschen jetzt leiden und sterben wollte, aber dereinst als ihr Richter wieder kommen werde. (Vgl. 1. Tim. 6,13)
(5) In der Synagoge im Tempelvorhof wie in den Synagogen der Juden überhaupt.
(6) Denn was er im Verborgenen seine Jünger lehrte, war nur die nähere Erklärung dessen, was er öffentlich gelehrt, und sollte durch seine Jünger öffentlich gepredigt werden.
(7) Die Antwort war der Weisheit des Gottmenschen würdig. Es war ungerecht. Ihn in eigener Sache zum Zeugnis aufzufordern. Da das Verbrechen, dessen man ihn beschuldigte, ein öffentliches war, so konnte es nicht schwer sein, die nötigen Zeugen beizubringen. Wollten die Richter nicht so verfahren, so zeigten sie damit offenbar, daß sie seine Verurteilung schon beschlossen hatten. Ihnen dies anzudeuten, schuldete Jesus der Wahrheit wie seiner Unschuld.
(8) Der Diener handelte so aus gemeiner Schmeichelei und Rohheit. Die Richter billigten durch ihr Schweigen die Untat. Die in beidem liegende Beschuldigung sowie der Umstand, daß die Kränkung und Beschuldigung in offener Gerichtsverhandlung vorging, wo es sich um öffentlich Anerkennung der Schuld oder Unschuld Jesu handelte, und selbst die Liebe zu dem Unglücklichen forderten Antwort. Jesus gab dieselbe mit großer Milde und Mäßigung. So lehrte er uns durch sein Beispiel, daß es auch Umstände gebe, wo die Vernunft und Gerechtigkeit und selbst die Liebe verlangen, nicht auch „die linke Wange dem darzubieten, der die rechte geschlagen“. Dem gemäß handelten auch seine Apostel. Noch in derselben Nacht und am folgenden Tage nimmt übrigens Jesus unzählige Backenstreiche und Misshandlungen hin, ohne sein Antlitz abzuwenden oder nur ein Wort zu erwidern.
(9) Beide hatten die Aussage Jesu wesentlich verändert, so daß darauf die Beschuldigung gründen ließ, er habe sich eine außerordentliche, ja göttliche Macht zugeschrieben durch das: „Ich kann, ich werde niederreißen etc.“ Darum waren sie falsche Zeugen. Ihre Falschheit ergab sich denn auch offenbar aus dem großen Unterschied ihrer Aussagen, sofern der eine Jesus den Tempel wirklich niederreißen, der andere ihn bloß sagen ließ, er könne es; ferner indem der eine ihn vom Aufbau desselben, der andere vom Aufbau eines wunderbaren (geistigen) Tempels reden ließ. Jesus aber hatte gesagt: „Löset (ihr, ihr Juden) diesen Tempel etc.“ und hatte ihnen dies geweissagt als ein Zeichen, an dem sie dereinst seine göttliche Vollmacht und Sendung erkennen müßten. Er legte sich darin nicht unberechtigt eine göttliche Macht bei, sondern er wies sie hin auf einen dereinst eintretenden unwiderleglichen Beweis seiner göttlichen Sendung, zu dem sie selbst zum größten Teil mithelfen würden. – Diese Beschuldigung brachten sie übrigens noch zweimal vor, nämlich als Spott, da Jesus am Kreuz hing, und als Vorwurf gegen den hl. Stephanus.
(10) Die umschließt zwei Gedanken: 1. Bist du der von den Propheten verheißene Messias (=Christus)? 2. Bist du der natürliche, wesensgleiche Sohn Gottes? Denn so hat Kaiphas offenbar den Ausdruck „Sohn Gottes“ gefaßt, weil er auf Gotteslästerung erkannte.
(11) Die Frage, amtlich auf das feierlichste von der höchsten geistlichen Autorität gestellt, betraf den wichtigsten Gegenstand, nicht bloß für das jüdische Volk, sondern auch für die ganze Menschheit; es war eine Frage, wie es weder vorher seit Anbeginn der Welt, noch nachher bis zum Ende eine wichtigere jemals geben kann, die Frage, von der das ewige Heil und Verderben aller Menschen abhängt. Darum bricht Jesus, der geschwiegen, solange es sich darum handelte, Lügen zu widerlegen, hier sein Schweigen, um von der Wahrheit Zeugnis zu geben, obwohl er wußte, daß es ihm das Leben kosten würde. Es ist ein Zeugnis, wahrlich würdig, durch das Blut des Sohnes Gottes besiegelt zu werden, weil es selbst das Siegel seines irdischen Lebens und Wirkens als Welterlöser ist. – Für dasselbe Zeugnis duldet seine Braut, die Kirche, alle Verfolgungen; dasselbe legen mutig ab alle ihre heiligen Bekenner; für dasselbe starben ihre heiligen Märtyrer.
(12) D. h.: Ihr werdet „von nun an“ den Menschensohn Anteil nehmen sehen an Gottes Macht und Herrlichkeit: er steht von den Toten auf, bekehrt durch seine Jünger die Welt, kommt zum Gericht über Jerusalem und die jüdische Nation.
(13) D. h.: Ihr werdet mich kommen sehen dereinst als euren Richter. Jesus erinnert an die Weissagung Daniels vom Menschensohn (Dan. 7,13f; vgl. Ps. 2,13); und „von nun an“, sagt er, weil sie in diesem Augenblick seinem Gericht verfallen, und er selbst mit seiner Verurteilung, die seinen Tod besiegelt, gewissermaßen sein Richteramt antritt.
(14) Zum Zeichen des höchsten Schmerzes, in Wahrheit gottlose Heuchelei.
(15) Über die vollständige Rechtlosigkeit dieses Gerichtsverfahrens, auch nach dem jüdischen Gesetz beurteilt (vor allem keine Entlastungszeugen, kein Verteidiger, keine Übereinstimmung zweier oder dreier Belastungszeugen; verdammendes Urteil an dem Tag der Verhandlung gefällt – das alles war rechtlos), sowie über den sittlichen Unwert der einzelnen Mitglieder dieses Hohen Rates erschien durch die berühmten Brüder Lémann, frühere Rabbiner, dann Priester, eine eigene Schrift unter dem Titel: Valeur de l`assemblée qui prononça la peine de mort contre Jésus-Christ, Paris 1876. Eine ähnliche Schrift veröffentlichte bereits 1828 der berühmte Jurist Dupin d. Ä. Bei Migne, Démonstration évang. XVI 727: J´sus devant Caïphe et Pilate. –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. II, Neues Testament, 1910, S. 488- S. 492

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