Mystici corporis Christi
Die Kirche, der geheimnisvolle Leib Christi
Enzyklika von Papst Pius XII. v. 29. Juni 1943
Dritter Teil: Pastorale Weisungen und Ermahnungen
I. Irrtümer betreffs der Verbindung der Gläubigen mit Christus
824 Das sind die Lehren, Ehrwürdige Brüder, die die Gläubigen recht und fromm erkennen und treu festhalten sollen. Dann können sie sich auch leicht vor jenen Irrtümern hüten, die von mancher Seite infolge einer willkürlichen Erforschung dieses schwierigen Gegenstandes nicht ohne große Gefahr für den katholischen Glauben und große Verwirrung der Seelen erwachsen.
1. Falscher Mystizismus
825 Manche bedenken zu wenig, daß der Apostel Paulus nur bildlich über diesen Gegenstand gesprochen hat, unterlassen die so notwendige Unterscheidung zwischen physischem, moralischem und mystischem Leib und bringen so einen ganz verkehrten Begriff von Einheit auf. Sie lassen nämlich den göttlichen Erlöser und die Glieder der Kirche zu einer einzigen physischen Person zusammenwachsen, und während sie den Menschen göttliche Attribute beilegen, unterwerfen sie Christus den Herrn dem Irrtum und der menschlichen Neigung zum Bösen. Solch irreführende Lehre steht in vollem Widerspruch zum katholischen Glauben, zur Überlieferung der Väter und ebenso zur Ansicht und zum Geist des Völkerapostels. Er weiß zwar um die wunderbare innige Verbindung Christi mit Seinem mystischen Leib, aber er stellt sie dennoch wie Braut und Bräutigam einander gegenüber (Vgl. Eph. 5,22f).
2. Ungesunder Quietismus
826 Nicht weniger entfernt sich von der Wahrheit der gefährliche Irrtum derer, die aus unserer geheimnisvollen Verbindung mit Christus einen ungesunden Quietismus herleiten wollen. Danach wird das ganze geistliche Leben der Christen und ihr Fortschritt in der Tugend nur der Wirksamkeit des Heiligen Geistes zugeschrieben unter völliger Verkennung und Beiseitelassung der persönlichen Mitwirkung, die wir ihm schulden. Gewiß kann keiner leugnen, daß der Heilige Geist Jesu Christi die einzige Quelle ist, aus der alles übernatürliche Leben in die Kirche und ihre Glieder herabfließt. Denn die ”Gnade und Glorie verleiht der Herr” (Ps. 84,12), sagt der Psalmist.
Daß aber die Menschen beständig in den Werken der Heiligkeit verharren, daß sie unverdrossen in der Gnade und Tugend voranschreiten, daß sie selbst mannhaft zum Gipfel der christlichen Vollkommenheit emporstreben, und auch andere nach Kräften dazu anspornen, das alles will der Geist Gottes nur dann wirken, wenn die Menschen selbst durch tägliches, tatkräftiges Bemühen ihren Teil dazu beitragen. „Nicht den Schlafenden”, sagt der heilige Ambrosius, „sondern den Eifrigen werden die göttlichen Wohltaten gespendet” (Ambrosius, Expos. Evang. sec. Luc. IV, 49. PL 15, 1626). Wenn nämlich schon in unserem sterblichen Leib die Glieder nur bei ständiger Übung gesund und kräftig bleiben, so gilt das noch in viel höherem Grad vom gesellschaftlichen Leib Jesu Christi, in dem ja die einzelnen Glieder alle ihre persönliche Freiheit und Verantwortlichkeit behalten. Deswegen konnte auch derselbe, der das Wort aussprach: „Ich lebe, doch nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir” (Gal. 2,20), ohne Zögern behaupten: „seine (das heißt Gottes) Gnade ist in mir nicht unwirksam geblieben, sondern ich habe mich mehr gemüht als sie alle; doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir” (1. Kor. 15,10). Es ist demnach klar, daß durch jene falschen Lehren das Geheimnis, von dem Wir handeln, nicht dem geistlichen Fortschritt der Gläubigen, sondern in beklagenswerter Weise ihrem Verderben dienstbar gemacht wird.
3. Geringschätzung der Andachtsbeichte
827 Dasselbe geschieht auch durch die falschen Anschauungen jener, die behaupten, man dürfe die häufige Beichte der lässlichen Sünden nicht so hoch einschätzen; das allgemeine Sündenbekenntnis, das die Braut Christi Tag für Tag zusammen mit den ihr im Herrn vereinten Kindern durch die Priester am Fuß des Altares ablege, sei ihr vorzuziehen. Gewiß können solche Sünden, wie euch bekannt ist, Ehrwürdige Brüder, auf mannigfache, höchst lobenswerte Weise gesühnt werden. Aber zum täglich eifrigeren Fortschritt auf dem Wege der Tugend möchten Wir angelegentlichst den frommen Brauch der häufigen Beichte empfohlen wissen, der nicht ohne Antrieb des Heiligen Geistes in der Kirche eingeführt wurde. Wird doch durch ihn die Selbsterkenntnis gefördert, die christliche Demut vertieft, die sittliche Schwäche an der Wurzel gefaßt, die geistliche Nachlässigkeit und Lauheit bekämpft, das Gewissen gereinigt, der Wille gestärkt, eine heilsame Seelenleitung ermöglicht und kraft des Sakramentes die Gnade vermehrt. Mögen also die, welche in den Reihen des jüngeren Klerus die Hochschätzung der häufigen Beichte zu verringern und herabzusetzen suchen, wohl bedenken, daß sie eine Sache betreiben, die dem Geist Christi fremd und für den mystischen Leib unseres Heilandes ein Unsegen ist.
4. Geringschätzung des persönlichen Gebetes
828 Manche sprechen auch unseren Gebeten alle wirkliche Kraft ab, oder suchen andern die Meinung beizubringen, die privaten Gebete hätten vor Gott geringe Bedeutung; vielmehr komme den öffentlichen, im Namen der Kirche verrichteten Gebeten der wahre Wert zu, weil sie vom mystischen Leib Jesu Christi ausgehen. Das ist durchaus nicht richtig. Der göttliche Erlöser steht nicht nur in der engsten Lebens-Gemeinschaft mit seiner Kirche als der viel geliebten Braut, sondern in ihr ist er auch aufs innigste vereint mit der Seele jedes einzelnen Gläubigen und sehnt sich danach, vor allem nach der heiligen Kommunion, traute Zwiesprache mit ihr zu führen.
Obgleich das öffentliche Gebet, da es von der Mutter Kirche selbst verrichtet wird, wegen der Würde der Braut Christi jedes andere übertrifft, so entbehren doch auch alle anderen, selbst die ganz privaten Gebete, nicht der Würde und Kraft. Sie tragen sogar viel bei zum Nutzen des ganzen mystischen Leibes. Denn in ihm wird kein gutes Werk, kein Tugendakt von einzelnen Gliedern vollbracht, der nicht infolge der Gemeinschaft der Heiligen auch der Gesamtheit zugute käme. Es ist den einzelnen Menschen auch nicht verwehrt, deswegen, weil sie Glieder dieses Leibes sind, besondere, auch rein zeitliche Gaben, für sich selbst zu erbitten, wenn dabei nur die demütige Unterwerfung unter den Willen Gottes gewahrt wird: sie bleiben ja selbständige Personen und ihren persönlichen Bedürfnissen unterworfen (Vgl. Thomas von Aquin, Sum. theol. II – II, q. 83 a. 5 und 6). Welche Hochschätzung endlich alle der Betrachtung himmlischer Wahrheiten entgegen bringen sollen, geht aus den amtlichen Äußerungen der Kirche, sowie aus der Übung und dem Vorbild aller Heiligen hervor.
5. Ablehnung des unmittelbaren Gebetes zu Christus
829 Schließlich kann man auch der Auffassung begegnen, wir dürften unsere Gebete nicht unmittelbar an die Person Jesu Christi richten; sie müssten sich vielmehr durch Christus an den ewigen Vater wenden, da unser Heiland als Haupt Seines mystischen Leibes nur als „der Mittler zwischen Gott und den Menschen” (1. Tim. 2,5) angesehen werden dürfe. Aber eine solche Behauptung widerspricht nicht nur dem Geist der Kirche und der Gewohnheit der Gläubigen, sondern widerstreitet auch der Wahrheit. Christus ist nämlich, um Uns klar zu fassen, mit beiden Naturen zugleich das Haupt der ganzen Kirche (Vgl. Thomas von Aquin, De Veritate q. 29, a. 4 c); und im übrigen hat er auch selbst feierlich erklärt: „Wenn ihr mich um etwas in meinem Namen bitten werdet, werde ich es tun” (Joh. 14,14).
Zwar werden, zumal beim heiligen Messopfer, wo Christus zugleich Opferpriester und Opferlamm ist und so in besonderer Weise das Mittleramt ausübt, die Gebete meist durch seinen eingeborenen Sohn an den ewigen Vater gerichtet. Doch auch hier, selbst bei der heiligen Opferhandlung, wendet sich nicht selten das Gebet auch an den göttlichen Erlöser. Es sollte doch allen Christen bekannt und selbstverständlich sein, daß der Mensch Jesus Christus zugleich Gottes Sohn und Gott selber ist. Und so antwortet gewissermaßen die streitende Kirche, wenn sie das makellose Lamm und die konsekrierte Hostie anbetet und anfleht, auf die Stimme der triumphierenden Kirche, die nicht aufhört zu singen: „Dem, der auf dem Throne sitzt, und dem Lamm sei Preis und Ehre und Herrlichkeit und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit” (Offb. 5,13). –
aus: Anton Rohrbasser, Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., 1953, S. 510 – S. 514