Hl. Katharina von Siena Gottes Rätsel
Die hl. Katharina und ihr Leben, diese Verbindung von mystischer Beschauung und tätiger Tugend, von Phantasie, Gefühl und praktischem Verstand, von Demut und Hochsinnigkeit, von Besonnenheit und Klugheit, von jungfräulicher Bescheidenheit und staunenswerter Freimütigkeit, von Schwachheit, Armut und überwältigender Kraft und Wirksamkeit, ein Leben und ein Wesen, in dem die schärfsten Gegensätze sich hören und rasch einigen und ausklingen, ist ein Rätsel, ja ein wahres Wunder in der Geschichte. In ihrer Einsamkeit erkennt sie mit scharfem Blick, mit wunderbarer Klarheit, gleichsam gefühlsmäßig die Bedürfnisse des Volkes, der Kirche und der Christenheit und die Quellen ihres Verfalls. Nicht nach eigenem Ermessen, nur gerufen tritt sie aus ihrer Zelle unerschrocken vor die Mächtigen der Erde, vor Staatsmänner und Päpste, gibt Ratschläge und bändigt durch die süße Milde ihrer Worte die Meute der entfesselten Volkswut. In ihrer Einfalt findet sie überall die rechten Wege und die Lösung der Schwierigkeiten. So wird sie ohne ihr Zutun Vermittlerin der Versöhnung und Werkzeug der bedeutendsten Geschehnisse des Jahrhunderts.
Wir stehen hier vor einem Rätsel der göttlichen Vorsehung in der Leitung der Welt und der Kirche, und zwar vor einem eigenartigen und auffallenden. Unbeachtetes, Kleines und Schwaches zum Werkzeug großer Dinge zu wählen und zu gebrauchen, ist immer die Art der göttlichen Weltregierung gewesen, namentlich in der übernatürlichen Ordnung. Nach dem Urbild der Erlösung hat Gott auserwählt, was töricht vor der Welt ist, um die Weisen zu beschämen, und das vor der Welt Schwache, um das Starke zuschanden zu machen; das vor der Welt Unangesehene und Verachtete und das, was nichts ist, hat Gott erwählt, um das, was ist, zunichte zu machen, damit kein Mensch sich vor ihm rühme (1. Kor. 1, 27f). So hat Gott nicht wenige Frauen mit mystischer Begabung zu Trägerinnen übernatürlicher Botschaft an die Menschen und zu bedeutsamer Wirksamkeit in der Kirche berufen. Eine Theodelinde und eine hl. Pulcheria in ihrer Zeit hatten schöne Aufgaben für die Kirche. Aber keine Frau hat er wie Katharina berufen, in die Kirchen-Angelegenheiten einzugreifen und die inneren, maßgebenden Kreise der kirchlichen Gewalt zu berühren, nicht zwar in Glaubensfragen, sondern in Angelegenheiten der äußeren Umgestaltung und der sittlichen Reform der Kirche. Ihr Beruf bewegte sich um das Haupt der Kirche selbst. Es ist ein Geheimnis der göttlichen Weisheit, die das, was nichts ist, beruft, wie das, was ist. Und man möchte auf den Gedanken kommen, es sei gleichsam eine gnädige, huldvolle Entschädigung für das Geschlecht, dem es nicht erlaubt ist, in der Kirche die Stimme zu erheben (1. Kor. 14, 34) gegenüber dem, das verordnetermaßen die Regierung der Kirche in den Händen hat.
Wenn die Heilige nun ein Werkzeug großer Dinge für die Kirche Gottes war, dann ist sie es geworden durch ihre Tugenden. Was ihrem Auftreten, ihren Worten und ihren Ratschlägen so viel Gewicht und Ansehen gab und alle Herzen ihr zuneigte und gewann, das war die unerschütterliche Überzeugung von ihrer Aufrichtigkeit, Selbstlosigkeit und wirklichen Heiligkeit. Man sah in ihr, wie bemerkt, gleichsam einen Ausfluss des Heiligen Geistes und der lautersten Liebe zu den Menschen. Liebe war der Grundton dieses außerordentlichen Wesens, Liebe, die überall Versöhnung und Frieden predigte. Nimmer müde flog sie wie eine Friedenstaube hin und her, wo Unfriede, Zwist, Hass und Zwietracht das Haupt erhoben hatten, und sie bezauberte die Ungeheuer durch die Macht ihrer milden Worte und den sanften Frieden ihrer Erscheinung. So wahr ist es, daß die Frömmigkeit zu allem nutz ist und die Verheißungen des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens hat (1. Tim. 4, 8). Ohne Tugend aber kann selbst Gott uns nicht brauchen zur Vollführung seiner Erbarmungen mit der Menschheit.
Was uns endlich die hl. Katharina so teuer, so verehrungswürdig und nachahmenswert macht, das ist ihre übergroße Liebe zu unserer heiligen Kirche. Sie erkannte mit klarem das große Geheimnis der Kirche in dem dreieinigen Gott, in dem menschgewordenen Gottessohn und in dem Heilige Geist. Daher ihre grenzenlose Ehrfurcht, ihre Liebe, ihre Hingabe und Begeisterung für die Kirche. Sie sah recht wohl die zeitliche Entstellung der Kirche, ihre Runzeln, Makel und Geschwüre, sie hatte, wie niemand, das lebhafte Bewusstsein der Notwendigkeit einer durchgreifenden Reform; das minderte aber ihre Achtung und Liebe nicht, im Gegenteil schärfte es ihren Eifer für das Festhalten an der Einigkeit, diesem Augapfel, dieser Seele der Kirche. Der Träger und Inhaber der Einigkeit aber war ihr der Papst, und deshalb stellte sie all das Ihrige in den Dienst des einen Papstes, und dieses zarte, milde Wesen konnte auffahren wie eine Löwin gegen den, der die Hand gegen das Haupt der Einheit erhob. Die Kardinäle, die den Gegenpapst geschaffen hatten, nannte sie Teufel in Menschengestalt.
… Die hl. Katharina, die Gott zu dem schönen Beruf erwählte, eine wackere Streiterin und Vorkämpferin für das Papsttum zu sein, und die wirklich ganz außerordentliche Verdienste nicht bloß für Rom, für Italien, sondern für die ganze Kirche hat, ist hierin eine gute und mächtige Fürsprecherin und Helferin. Wenn das gebet und das Wort dieser treuen Tochter der Kirche in der Sterblichkeit ihres Lebens so viel vermochte, um wieviel mehr vermag dann ihre glorreiche Fürbitte im Himmel! –
aus: Moritz Meschler SJ, Aus dem katholischen Kirchenjahr, Erster Band, 1919, S. 336 – S. 339