Entwicklung betrachtet nach katholischer Lehre
Wie steht es nun mit der Berechtigung der Annahme von Entwicklung im Christentum?
Der Heiland selbst hat das messianische Reich mit einem Senfkörnlein verglichen, das zum Baum wird, mit der Saat, die sich auswächst bis zur Zeit der Ernte. Eine gewisse Entwicklung des Christentums und der Kirche – denn sie sind das messianische Reich – ist damit angedeutet. Aber in welchem Sinne gibt es Entwicklung und Wachstum im Christentum und in der Kirche? Die Parabeln des Herrn legen uns den Vergleich mit einer Pflanze, die Worte des Völkerapostels vom mystischen Leib Christi den Vergleich mit dem menschlichen Organismus nahe. So prüfen wir denn, wieweit sich Gedanken vom Anfangsstadium oder dem Keim, von den Entwicklungs-Faktoren, von den Entwicklungs-Gesetzen nach der Lehre Christi und der Kirche sich an diesem Organismus verwirklicht finden, und vergleichen wir diese kirchliche Überzeugung mit der Auffassung der Modernisten.
1. Nach dem, was wir im Evangelium lesen, ist es der Heiland selber, der den Samen einer Lehre streut, die kirchliche Organisation in ihren wesentlichen Zügen schafft, einen neuen Kult begründet. Vergleichen wir die Angaben der Evangelien über die Predigt des Herrn mit dem heutigen Lehrbegriff der katholischen Kirche, das Apostelkollegium und dessen Haupt, den Apostelfürsten Petrus, mit der katholischen Hierarchie, die von Christus eingesetzten Heilsriten mit dem katholischen Gottesdienst, so werden wir einerseits die innigste Verwandtschaft, ja Gleichheit in allen Wesensmerkmalen, die Zusammengehörigkeit und innere Kontinuität nicht verkennen können, anderseits wird uns das Christentum, wie es heute in der konkreten Gestalt der katholischen Kirche vor uns liegt, verglichen mit den Anfängen in den Evangelien, wirklich erscheinen wie ein Baum gegenüber dem Samenkorn und wie der erwachsene Mann gegenüber dem Kind im Mutterschoß.
Man kann also wohl von einem Keim reden, den der Herr gepflanzt. Aber zwei Dinge dürfen wir nicht vergessen, welche die Modernisten nie beachten wollen. Wir dürfen nicht mit Loisy uns irgend einen Keim a priori konstruieren, um jene geschichtliche Entwicklung zu erhalten, die wir wollen, sondern wir müssen das Keimstadium so nehmen, wie es in den unverfälschten und unverkürzten Evangelien uns entgegen tritt. Es war schon eine ganze Lehre, eine ganze Organisation mit ihrer monarchischen Spitze, ein ganzer Kult, mit einem Wort: die ganze Pflanze der Kirche mit ihrer Lehr-, Hirten- und Priestergewalt. Das war der Keim, von dem das Christentum seine Ausgang nahm. Und dieser Keim war eine Schöpfung nicht des Menschengedankens, sondern des eingebornen Gottessohnes und daher von Anfang an ausgerüstet mit übernatürlichem Leben und übernatürlicher Kraft. Das ist das zweite, was die Modernisten nicht zugestehen wollen noch können, nachdem sie dem Heiland die Gottheit abgesprochen haben. Darum müssen sie einen rein natürlichen Keim sich ausdenken. Der aber hat keine übernatürliche Lebenskraft; es fehlt ihm jede Anlage zur Übernatur. Er ist starr und tot. Menschliche Illusionen, wie die Modernisten sie dem Heiland zuschreiben, können sowenig einen Keim zum Christentum bilden, als der leblose Stein ein Embryonalstadium des Menschen sein kann.
2. Die Kirche aber, wie der Heiland sie schuf, war voll der Lebenskraft. Bald zwei Jahrtausende lebt das Christentum schon, und stets pulsiert noch jugendfrischer Lebenssaft in allen seinen Adern. Das Senfkörnlein ist gewachsen, zum gewaltigen Baum gediehen. Er überschattet den Erdkreis, und es wohnt sich gut in seinem Schatten. Ganze Generationen von Völkern sind in die Kirche eingetreten, und in allen Erdteilen hat das Christentum Wurzeln geschlagen. Das Christentum und die katholische Kirche – denn beide sind nur eins – haben sich also ausgewachsen und ausgestaltet. Eine Entwicklung ist nicht zu verkennen. Die Kirche hat sie allzeit dankbar anerkannt und in ihr die Segenskraft des Herrn und die Wahrheit seiner Prophezeiungen bewundert. Der Baum, der unter gewaltigen Stürmen seine Wurzeln immer tiefer schlug und weiter trieb, der seine Äste ausweitete und herrliche Blüten und Früchte der Tugenden reifte, musste übernatürliche Lebenskraft besitzen. Diese ist der große innere Entwicklungs-Faktor, den es für die Kirche gab. Und gerade er wäre nach der Behauptung der Modernisten nicht vorhanden gewesen. Ihrer Entwicklung fehlt es an jedem genügenden Grund; es fehlt die ursprüngliche Anlage, ohne die auch die Biologie keine Entwicklung kennt.
Also Christentum und Kirche sind gewachsen und gediehen. Die Lehre Christi hat sich ihren Weg gebahnt zu allen Nationen und Zeiten und wird ihn weiter bahnen; sie drang ein in die Menschenherzen, sie ergriff alle Verhältnisse und Einrichtungen, Familie, Gemeinde und Staat. Die Hirtengewalt der Kirche machte sich Völker und Nationen untertan und schuf in ihnen christliche Zivilisationen und Kultur; die priesterliche Gewalt drang zugleich mit ihnen vor und reinigte, adelte, stärkte; Barbaren wurden zu Christen, zu Gotteskindern, zu Heiligen.
Gibt es aber im Christentum ein Wachsen des Lehrgehaltes, gibt es ein Wachstum der kirchlichen Regierungsgewalt des katholischen Priesteramtes in seinem Wesen? Das ist unmöglich. Wohl kann sich die Lehre des Heilandes und seiner Apostel entfalten und immer mehr und mehr den ganzen Reichtum enthüllen, der in ihr geborgen ist. Völlig neue Lehren treten uns in der Dogmen-Entwicklung nie entgegen, sondern nur eine deutlichere Vorlegung und Erklärung schon vorhandener Lehren. (1) Die Organisation der Kirche kann sich in rein äußerlicher, zufälliger Weise entwickeln durch Schaffung niederer Weihegrade, durch Abstufung und Regelung der Jurisdiktion, durch Einrichtung neuer Hilfsorgane. Aber es bleibt die Scheidung in Gläubige, Priester und Bischöfe bestehen, es bleibt die Weihegewalt, welche der Heiland diesen letzteren verliehen; es bleibt die vom Heiland gewollte Verfassung in seiner Kirche, nach welcher das Kollegium der Apostel und sein Erbe,d er Episkopat, in Petrus und seinen Nachfolgern eine monarchische Spitze haben sollte. Was immer in der Kirche auf dem Gebiet der Regierungsgewalt, der Jurisdiktion sich vollzieht, geschieht in Abhängigkeit von der obersten Jurisdiktions-Gewalt des Papstes, und diese ist vom Heiland selbst eingerichtet. An der Konstitution der Kirche und ihren wesentlichen Gewalten läßt sich nichts ändern. Sie sind keinem Wechsel, keiner Verminderung unterworfen, aber auch keiner Vermehrung fähig.
Auch der Kultus kann sich nur in akzidenteller Weise entwickeln; Sakramente und Opfer können mit wechselnden Zeremonien umgeben werden, ihrem Wesen nach aber müssen sie bleiben. Sie sind ein Vermächtnis des Herrn. Zu der eben genannten unwesentlichen Entwicklung können neue Bedürfnisse der Völker, geschichtliche Verhältnisse und Umgestaltungen beitragen, und insofern kann man in ihnen sekundäre Entwicklungs-Faktoren erkennen; eine wesentliche Umgestaltung der christlichen Lehre, des Organismus der Kirche, der Sakramente und des Opfers gibt es nicht.
(1) Vgl. Chr. Pesch SJ, Theologische Zeitfragen. Vierte Folge. Glaube, Dogmen und geschichtliche Tatsachen. Eine Untersuchung über den Modernismus. Freiburg 1908, Herder 194ff.
3. Die Modernisten setzen voraus, jedes Leben sei wesentlich Veränderung und Umgestaltung; das ist nicht wahr. Gott lebt und er ändert sich nicht, sondern bleibt in wandelloser Ruhe. Auch der Menschengeist lebt, und es vollzieht sich an ihm keine wesentliche Umgestaltung. So kann das Christentum leben und wirken, ohne daß an seinem Wesen eine Veränderung vorgeht. Die Veränderung vollzieht sich an den Menschen, die es erzieht, hebt und adelt. Der pflanzliche und tierische Organismus muss Nahrung zu sich nehmen, weil er täglich Kräfte verbraucht und seine Organe abnutzt und deshalb des Ersatzes bedarf. Weder die Lehre des Herrn noch die von ihm verliehenen Gewalten und Gnadenmittel nutzen sich ab. In diesen wesentlichen Elementen des Christentums gibt es keinen Verbrauch, und daher bedarf es keiner „Intussuszeption“, keiner Nahrungsaufnahme und keiner Assimilation. Die ganze Intussuszeption und Assimilation, die im Christentum und in der Kirche stattfindet, vollzieht sich auf Seiten der Gläubigen. Sie müssen der Kirche Christi angegliedert, ihres Lebens teilhaftig werden, die Lehre Christi, die Gebote der Kirche, die Gnade in sich aufnehmen und von ihnen sich beseelen lassen. Aber das Christentum selbst bedarf für sein Leben keiner „Intussuszeption“. Die Kirche macht für ihren Glauben keine Anleihen bei den Philosophen, borgt keine Gewalten von Staat, holt sich ihren Kult und ihre Gnadenmittel nicht bei fremden Religionen. Selbst was sie im Laufe der Zeiten an zufälligen Zeremonien und Gebräuchen aufnahm, war nicht fremdes Sondergut, sondern allgemein menschliches Erbgut, auf das der Heiland selber ihr ein Recht verliehen, als er sie für die Menschen gründete. Daher gibt es im Wesen des Christentums auch kein Wachstum, sondern nur in seiner Ausdehnung. Die Lehre der Kirche wächst nicht, sie entfaltet sich nur; es wächst nicht ihre wesentliche Organisation, es wächst nicht das Wesen ihres Kultes. Das wahre Wachstum des Christentums und der Kirche ist anderswo zu suchen. Es wachsen, wie das Vatikanum sagt, die Gläubigen durch immer klarere Erkenntnis und tieferes Eindringen in die kirchliche Lehre; es wachsen die Völker in der Unterwürfigkeit und steigen empor unter der Leitung der Kirche; sie wachsen durch Benutzung der Gnadenmittel hinein ins ewige Leben.
Die Modernisten stellen die Sache immer so dar, als müsse das Christentum, um leben zu können, sich den Verhältnissen und Kulturepochen anpassen. Musste also die Kirche in Lehre, Organisation und Kult sich nach den Griechen und Römern, Chinesen und Japanern, Persern und Indern richten!“ Nein, das Christentum ist vom Herrn so geschaffen, daß seine Lehre, seine Leitung, seine Sakramente die Menschen aller Zeiten und Zonen fördern und heiligen können. Der Heiland kannte die Menschennatur und brauchte für seine Schöpfung nicht bei Menschengebilden um Kraft betteln gehen. Und doch gibt es eine gewisse Anpassung an Orte und Zeiten auch in der Kirche, nicht in dem, was sie lehrt, sondern in der Form, in der sie lehrt; nicht in der Autorität, der sie nicht entsagen, oder im Gehorsam gegen Gottes Gebot, den sie absolut verlangen muss, sondern in den Anforderungen, die sie stellt, und in der Art und Weise, wie sie lenkt; nicht in den Gnadenmitteln selbst, sondern in dem Maß, in welchem sie dieselben den Gläubigen öffnet.
Keine Lehre der Kirche kann fallen, keine ihrer wesentlichen Gewalten abgeschafft werden, keines ihrer Sakramente schwinden. So gibt es für das Christentum und die Kirche kein Altern und kein Sterben. Sie sind wie ein Baum, der gepflanzt ist an Wasserbächen, er wächst hinein ins ewige Leben. Nie gebricht es ihm an Lebenskraft, um die Völker und die einzelnen Menschen in Wachstum und Blüte zu erhalten. Sie werden nur dann welk und fallen ab, wenn sie sich selber gegen den in der Lehre, dem Opfer und den Sakramenten strömenden Lebenssaft freiwillig abschließen. Und Gottes Vorsehung und Gnade sorgt, daß Tausende und Millionen bleiben und neue Tausende und Millionen den Verlust decken.
Gottes Weisheit und Liebe hat ihn gepflanzt, Gottes übernatürliche Vorsehung waltet über ihm, nicht Laune und Willkür, aber auch nicht das eiserne Gesetz der Naturnotwendigkeit oder das Geschick, das menschliche Institutionen trifft. Die Organismen altern, der Leib stirbt und zerfällt, die Reiche der Menschen werden zertrümmert, aber die Kirche wird von den Pforten der Hölle nicht überwältigt. Das ist das wahre Bild von der Entwicklung in der Kirche.
Die Entwicklungs-Geschichte des Christentums aber, wie der Modernismus sie darstellt, zeigt am Anfang der Entwicklung eine Totgeburt, in ihrer Fortsetzung lange Stadien der Zersetzung, am Ende Moder und Asche. Das Studium des Dekrets Lamentabili wird zeigen, daß dies Urteil wahr ist. –
aus: Julius Beßmer SJ, Philosophie und Theologie des Modernismus, 1912, S. 97 – S. 103