Eine weitere Grundlüge der heutigen Zeit
Die (…) Grundlüge bezeichnet der Apostel Johannes, in dem er schreibt: „Wer sagt, er habe keine Sünde, ist ein Lügner, und die Wahrheit ist nicht ihn ihm.“
Am meisten Lügner dieser Art findet man in den Städten, bei Herrenbauern und überhaupt bei Menschen, die gar nicht mehr oder nur an Ostern beichten. Diese Verblendung kommt vor allem daher, weil diese Leute meinen, man sei Gott höchstens so viel Rücksicht schuldig als etwa dem Landesfürsten. Wenn ich nämlich keine Landesgesetze in der Art verletze, daß es ein paar Zeugen oder gar ein Polizeidiener sehen, so kann ich treiben, was ich will. Wenn z. B. ein Stadtherr, dessen Frau und Kinder oft am Notwendigsten Mangel leiden, dennoch alles mitmacht, Sänger-, Turm- und Schützenfesten nachfahrt, und wenn er in gehobener Stimmung Gänseleberpastete und Schampanjer kommen läßt, so geht das die Obrigkeit nichts an, und er ist bei seinen Genossen doch ein Ehrenmann. Oder wenn ein bösartiges Weib durch ihre Wunderlichkeit und Eifersucht einem Mann jämmerlich das Leben verbittert, daß er davon laufen oder sich einen Tod antun möchte, so kann hier die Obrigkeit nichts machen, weil das Landesgesetz keinen Artikel hat gegen Wunderlichkeit, Eifersucht und Bosheit der Weiber.
Mit Gott sieht es aber ganz anders aus, er nimmt dich vollständig in Anspruch; unendlich genauer und rechtmäßiger gehörst du Gott, als ein Kind dem Vater, als ein Sklave dem Herrn – du bist ihm leibeigen und seeleneigen. Du bist schuldig, und er verlangt es mit großem Ernst, daß du ihn liebst und ihm dienst von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus allen deinen Kräften, über alles. Gott sieht dich unaufhörlich an, wie wenn du das einzige Geschöpf auf der Welt wärest; und was du nur tust, redest und denkst, das photographiert sich gleichsam in Gott und bleibt deshalb ewig aufgezeichnet. Darum soll auch alles, was wir tun und leiden, Bezug auf Gott haben und nach Gott sich richten. –
Nun, wie steht es jetzt, Herr Leser oder Frau Leserin? Vielleicht lebst du in einem ganz andern Dienst, als im Dienst Gottes – der Mann arbeitet, amtet oder spekuliert im Dienst der Welt, d. h. um Fortkommen, Geld, Ehre u. dgl. zu bekommen; und das Weib betet die eigene Familie an, d. h. sinnt und sorgt und haust, hantiert und haspelt das Leben ab nur für Mann und Kind – und der liebe Gott wird nur so nebenher ein wenig berücksichtigt wie ein weitläufiger Verwandter, von dem man nach dessen Ableben auch noch ein Pöstlein zu erben hofft; oder wie ein Nachbar, den man im Fall der Not zur Hilfe ruft, oder bei dem man ein paar Mark leiht, wenn gerade das Geld ausgegangen ist.
Aber auf diesem Weg geht es nicht in dem Himmel. Der Weg, welcher dahin führt, ist abgesteckt mit Wegzeigern;
auf dem ersten steht: „Willst du in den Himmel eingehen, so halte die Gebote.“
Auf dem zweiten: „Liebet eure Feinde und tut Gutes denen, die euch hassen und verfolgen.“
Auf dem dritten: „Lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“
Auf dem vierten: „Wenn dich dein Auge ärgert, so reiße es heraus.“
Auf dem fünften: „Selig sind, die eines reinen Herzens sind; denn sie werden Gott anschauen.“
Auf dem sechsten: „Wachet und betet.“
Auf dem siebten: „Wer mein Fleisch nicht ißt und mein Blut nicht trinkt, wird das Leben nicht in sich haben.“ –
Und dies sind noch nicht einmal alle Wegweiser, nach denen man sich richten muss – in der Heiligen Schrift und in den Predigten rechtschaffener Geistlichen kannst du auch die anderen noch finden. Und man muss sich an alle genau halten, wenn man an den rechten Ort kommen will.
Manche Leute meinen oft: wenn sie in dem einen und jenem Stück sich ordentlich aufführen, so werde es Gott mit dem übrigen nicht so genau nehmen. Allein wie es zu der Gesundheit gehört, daß man von allen Krankheiten frei sei, und wie einer zum Tod nur eine einzige Krankheit braucht, so braucht es auch nur eine einzige Art von Todsünden um ewig verworfen zu werden. Der Auszehrende tröstet sich umsonst damit, daß er einen guten Magen und gesegneten Appetit habe; sein Leben wird nicht durch den Magen ausgelöscht, sondern durch die löcherige Lunge. Oder wer die Cholera hat, dem hilft sein gesunde Lunge nichts, der Tod drangsaliert die Seele auf anderem Weg zum Leib hinaus. So mag ein behäbiger auf dem Dorf oder ein Stadtmensch niemanden etwas gestohlen haben, er lebt aber in Feindschaft, oder ist unzüchtig in Gedanken, oder ist ein Bauchdiener, der keine Fasten haltet und viel für den Leib verbraucht – darin wird er unter ein Dach kommen mit dem Dieb, wenn er sich nicht wahrhaft bekehrt.
Der Apostel Paulus sagt: wir müssten nicht nur gegen Fleisch und Blut kämpfen, sondern auch gegen böse Geister in der Luft. So gibt es auch zweierlei Lügen: solche, die auf der Erde kriechen, d. h. welche irdische Angelegenheiten, Handel und Wandel betreffen – und Lügen der Luft, d. h. die Lügen, welche das Höchste, die Beziehungen zu Gott betreffen – und die Religion und das Christentum verderben. Gerade diese Lügen, weil sie die Seelen der Menschen unsinnig machen, daß sie in ihr Verderbnis sich stürzen, wie gejagte Heuschrecken ins Feuer springen.
Der ganze Artikel will also sagen: Der Teufel ist der Lügner von Anbeginn und Vater der Lüge. Daher sollst du nicht lügen und sollst dich aber auch nicht anlügen lassen, am wenigsten in Religionssachen. Beides: selber lügen und die Lüge annehmen, führt zum Teufel. –
aus: Alban Stolz, ABC der großen Leute, 1913, S. 62 – S. 64