Der Katechismus über den Modernismus
nach der Enzyklika Pascendi Dominici gregis des hl. Pius X.
Fünftes Kapitel
Der Modernist als Historiker und Kritiker – § 1. Anwendung des Agnostizismus
„Nachdem wir aber in den Anhängern des Modernismus den Philosophen, Gläubigen und Theologen beobachtet haben, erübrigt jetzt noch, daß wir auch den Historiker, Kritiker, Apologeten und Reformatoren ins Auge fassen.“
167. Was scheinen einige Modernisten, die sich mit geschichtlichen Studien beschäftigen, besonders zu befürchten?
„Einige Modernisten, die sich mit geschichtlichen Studien beschäftigen, scheinen ganz besonders zu befürchten, daß man sie für Philosophen halte; sie bekennen sogar, daß sie der Philosophie ganz fern stehen. Das ist äußerst schlau.“
168. Warum wollen die modernistischen Historiker der Philosophie so fern stehen?
„Damit ja niemand meine, sie seien von philosophischen Meinungen voreingenommen und deshalb, wie sie sagen, nicht ganz objektiv.“
169. Lassen sich diese Modernisten aber trotzdem von philosophischen Systemen beeinflussen?
„Trotzdem ist es wahr, daß ihre Geschichte oder Kritik die reinste Philosophie ist, und daß ihre Schlussfolgerungen aus ihren philosophischen Grundsätzen in logischer Denkweise hervorgehen. Dieses leuchtet jedem leicht ein, der die Sache betrachtet.“
170. Von welchen philosophischen Prinzipien leiten die modernistischen Historiker ihre Gesetze ab?
„Die ersten drei Gesetze dieser Historiker oder Kritiker sind nämlich die gleichen Prinzipien, die wir oben von ihren Philosophen hergenommen haben: Der Agnostizismus, das Gesetz von der Verklärung der Dinge durch den Glauben, und jenes andere, das wir als Gesetz von der Entstellung bezeichnen zu können glaubten. Bemerken wir gleich die Folgerungen aus den einzelnen Gesetzen.
171. Welcher geschichtliche Grundsatz folgt nach ihnen aus dem Agnostizismus?
„Aus dem Agnostizismus folgt, daß die Geschichte, nicht anders als die Wissenschaft einzig von den Phänomenen handelt. Folglich ist Gott und jeder Einfluss Gottes auf die menschlichen Geschicke an den Glauben zu verweisen, denn zu diesem allein gehört er.“
172. Wie verfährt dann der Modernist, wenn in der Geschichte etwas vorkommt, das aus Göttlichem und Menschlichem zusammen gesetzt ist?
„Wenn demnach etwas vorkommt, das aus zwei Elementen zusammen gesetzt ist, dem göttlichen und menschlichen, wie da sind Christus, die Kirche, die Sakramente und vieles andere dieser Art, dann muss so getrennt und geteilt werden, daß das Menschliche der Geschichte, das Göttliche dem Glauben zufalle. Deshalb ist den Modernisten die Unterscheidung zwischen dem Christus der Geschichte und dem Christus des Glaubens, zwischen der Kirche der Geschichte und der Kirche des Glaubens, zwischen den Sakramenten der Geschichte und den Sakramenten des Glaubens, sowie manch anderes derart, sehr geläufig.
173. Was sagt nun bezüglich dieses menschlichen Elementes das zweite philosophische Prinzip des modernistischen Geschichtsschreibers?
„Das menschliche Element selbst, das, wie gesagt, der Geschichtsschreiber für sich in Anspruch nimmt, wird sodann, wie es in den Dokumenten erscheint, vom Glauben durch die Verklärung über die historischen Bedingungen erhoben.“
174. Wie lautet demnach das zweite geschichtliche Gesetz des Modernisten?
„Die Zusätze, die der Glaube gemacht hat, sind also zu entfernen und an den Glauben selbst sowie an die Geschichte des Glaubens zu verweisen: so z. B. Wenn es sich um Christus handelt, alles was die Verhältnisse des Menschen übersteigt, sei es die natürlichen, wie sie von der Psychologie beschrieben werden, sei es die örtlichen und zeitlichen, in welchen er gelebt hat.“
175. Welches dritte Gesetz gilt für den modernistischen Historiker kraft des philosophischen Prinzips der Entstellung?
„Nach dem dritten philosophischen Prinzip prüfen sie ferner auch noch jene Dinge, die das geschichtliche Gebiet nicht überragen, entfernen alles und verwiesen es gleichfalls an den Glauben, was nach ihrem urteil der Logik der Tatsachen, wie sie sagen, nicht entspricht oder zu den Personen nicht paßt. So behaupten sie, Christus habe nie etwas gesagt, was die Fassungskraft des zuhörenden Volkes überstieg. Daher streichen sie aus seiner wirklichen Geschichte alle Gleichnisse, die in seinen Reden vorkommen, und überweisen sie dem Glauben.“
176. „Man wird vielleicht fragen, nach welchem Gesetz dieses ausgeschieden wird?“
„Nach dem Charakter des Menschen, nach seinen bürgerlichen Verhältnissen, seiner Erziehung, dem ganzen Zusammentreffen der Umstünde jeder einzelnen Tatsache; mit einem Wort, wenn wir es recht verstehen, nach einer Norm, die zuletzt zu einer rein subjektiven sich gestaltet.“
177. Inwiefern ist diese Norm rein subjektiv?
„Sie bemühen sich nämlich, die Person Christi zu erfassen und dieselbe gleichsam selbst zu durchleben; was sie selbst nun in gleichen Umständen getan hätten, das übertragen sie alles auf Christus.“
178. Wie behandeln also die Modernisten Christus kraft dieser drei philosophischen Prinzipien, die in ihrer Geschichtsschreibung gelten?
„So behaupten sie also, um mit dieser Frage zu schließen, von vornherein und kraft philosophischer Grundsätze, die sie vertreten und doch nicht zu kennen vorgaben, in ihrer, wie sie sagen, wirklichen Geschichte, Christus sei nicht Gott und habe gar nichts Göttliches getan; als Mensch aber habe er nur das getan oder gesagt, was sie ihm, ins eine Zeit sich versetzend, zu tun oder zu sagen gestatten.“
179. Wie sind nach den Modernisten Philosophie, Geschichte und Kritik einander untergeordnet?
„Wie die Geschichte von der Philosophie, so empfängt die Kritik von der Geschichte ihre Schlussfolgerungen.“
180. Wie behandelt also der modernistische Kritiker die Dokumente, mit denen er es zu tun hat?
„Der Kritiker teil nämlich, den Kennzeichen folgend, die er vom Historiker erhält, seine Dokumente in zwei Gruppen. Was immer nach der genannten dreifachen Verstümmelung noch übrig bleibt, das weist er der wirklichen Geschichte zu; das andere schiebt er zu der Geschichte des Glaubens oder zu der inneren Geschichte.“
181. Unterscheiden sie denn diese zwei Arten Geschichte?
„Diese beiden Arten Geschichte unterscheiden sie ganz genau; und die Geschichte des Glaubens, was wir besonders hervorheben wollen, stellen sie der wirklichen Geschichte, insofern sie wirklich ist, gegenüber.“
182. Wenn nun die Geschichte des Glaubens keine wirkliche Geschichte ist, was sagen dann die Modernisten von dem doppelten Christus, der nach ihrer Lehre oben unterschieden wurde?
„Wie gesagt, gibt es also einen doppelten Christus: einen wirklichen und einen andern, der tatsächlich nie gewesen ist, sondern zum Glauben gehört; einen, der an bestimmtem Ort und zu bestimmter Zeit gelebt hat, und einen andern, der nur ind en frommen Betrachtungen des Glaubens gefunden wird.“
183. Wo ist diese Christus des Glaubens besonders geschildert?
„So ist beispielsweise der Christus, den das Johannes-Evangelium darbietet; dieses ist ja, wie sie sagen, ganz und gar nur fromme Betrachtung.“ –
aus: J.B. Lemius Obl. M. J., Der Modernismus Sr. H. Papst Pius X. Pascendi dominici gregis, 1908 S. 52 – S. 57