Heinrich Eduard Manning, Erzbischof:
Der Antichrist oder Die gegenwärtige Krise (1861)
TEIL 1
Die Verfolgung der Kirche
Wovon ich zu sprechen habe, das ist die Verfolgung, die der Antichrist über die Kirche bringen wird. Wir haben bereits den Grund zu der Annahme gesehen, daß, gleichwie unser Herr sich in die Hände der Sünder überlieferte, als seine Zeit gekommen war, und Niemand Hand an ihn legen konnte, bis er sich freiwillig ihrer Macht übergab, es ebenso mit jener Kirche sein werde, von welcher er sagte: „Auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“ Wie die Bösen nichts über ihn vermochten, selbst als sie ihn mit Stricken banden und zum Gerichte schleppten, ihn als falschen König verspotteten, als falschen Propheten auf das Haupt schlugen, wegführten und kreuzigten, und vollkommene Gewalt über ihn zu haben schienen, so daß er fast vernichtet unter ihren Füßen auf dem Boden lag, und wie er gerade zu der Zeit, als er gestorben und begraben war, am dritten Tage siegreich wieder auferstand und in den Himmel auffuhr, um da gekrönt und verherrlicht und mit seiner königlichen Würde bekleidet, als König der Könige und Herr der Herren zu herrschen – ebenso wird es mit seiner Kirche sein. Wenn sie gleich eine Zeit lang verfolgt und in den Augen der Menschen mit Füßen getreten, entthront, beraubt und verspottet ist, so werden doch in diesem höchsten Triumph des Bösen die Pforten der Hölle nicht die Oberhand behalten. Es ist der Kirche eine glorreiche Wiederauferstehung, eine königliche Herrschaft und ein herrlicher Lohn für alles vorbehalten, was sie erduldet hat. Wie Jesus muss sie auf dem Wege zu ihrer Krone leiden, aber gekrönt wird sie mit ihm sein ewiglich. Niemand nehme also ein Ärgernis daran, wenn die Prophezeiung von künftigen Leiden spricht. Wir bilden uns so gerne herrliche Triumphe ein für die Kirche auf Erden – das Evangelium werde allen Völkern gepredigt und die Welt belehrt werden, und alle ihre Feinde werden endlich zu ihren Füßen liegen, und ich weiß nicht was, so daß manche Ohren gar nichts davon hören wollen, daß der Kirche eine Zeit schrecklicher Trübsal aufbewahrt sein soll. Damit machen wir es wie vor Alters die Juden, die einen Eroberer, einen König und zeitliche Wohlfahrt erwarteten, und als ihr Messias in Demut und Niedrigkeit kam, erkannten sie ihn nicht. Ebenso berauschen viele unter uns ihren Geist mit den Visionen von Siegen und Triumphen und können den Gedanken nicht ertragen, daß für die Kirche noch eine Zeit der Verfolgung kommen soll. Lasset uns daher die Worte des Propheten Daniel vernehmen.
Die ersten Merkmale kommender Verfolgung
Verächtliche Gleichgültigkeit gegen Wahrheit oder Lüge
Das erste Wahrzeichen oder Merkmal dieser kommenden Verfolgung ist eine Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit. Gerade wie vor einem Sturm Totenstille herrscht, so ist vor einem Ausbruch eine Zeit der Ruhe. Das Zeichen, das sicherer als jedes andere den Ausbruch einer künftigen Verfolgung verkündigt, ist eine gewisse verächtliche Gleichgültigkeit gegen Wahrheit oder Lüge.
Das alte Rom nahm in der Blüte seiner Macht jede falsche Religion von seinen unterworfenen Völkern auf und gab jeder von ihnen einen Tempel innerhalb seiner Mauern. Es war durchaus gleichgültig gegen alle religiösen Kulte der Erde. Es ermutigte sie; denn jedes Volk hatte seinen eigenen Aberglauben, und dieser eigene Aberglaube war ein Mittel, die Völker, die innerhalb seiner Tore einen Tempel bauen durften, in Ruhe und Gehorsam zu erhalten. In gleicher Weise sehen wir die Nationen der christlichen Welt in diesem Augenblicke nach und nach alle, auch einander widersprechende, religiöse Sekten aufnehmen, d. h. ihnen, wie man sagt, vollkommene Duldung gewähren. Man anerkennt keinen Unterschied der Wahrheit oder Falschheit zwischen der einen Religion oder der andern, sondern läßt alle religiösen Sekten ihren Weg gehen. Ich sage nicht ein Wort gegen dieses System, wenn es unvermeidlich ist. Es ist das einzige System, wodurch jetzt die Gewissensfreiheit erhalten wird. Ich sage nur, erbärmlich ist der Zustand der Welt, in welcher zehntausend Gifte rings um eine einzige Wahrheit wachsen; erbärmlich ist der Zustand eines Landes, wo die Wahrheit nur geduldet wird. Dies ist ein Zustand großer geistiger Gefahr, und doch scheint es, es gibt keine Alternative, als daß die Staatsgewalt vollkommene Gewissensfreiheit gestattet und sich daher vollkommen indifferent verhält.
Wir wollen nun die Folgen betrachten.
Glaubenslehren werden mit allen Formen von Häresie vermischt
Zuerst wird die göttliche Stimme der Kirche dadurch ganz ignoriert. Man sieht keinen Unterschied zwischen einer Glaubenslehre und einer menschlichen Meinung. Beide dürfen frei ihre Wege gehen. Glaubenslehren werden mit allen Formen von Häresie vermischt, bis wir wie in England alle erdenklichen Glaubensformen haben, von dem Konzil von Trient in all seiner Strenge und Vollkommenheit auf der einen Seite bis zu dem Katechismus der positiven Religion auf der andern. Wir haben alle Arten von religiösen Meinungen, die von den zwei Extremen ausgehen und sich frei entwickeln dürfen; das eine Extrem ist die Anbetung Gottes, der für uns Fleisch geworden, in der Einheit und Dreifaltigkeit. Und das andere die Leugnung Gottes und der Kult der Menschheit. Indem die Staatsgewalt die göttliche Stimme der Kirche natürlich leugnet und ignoriert, muß sie die göttliche Einheit der Kirche ignorieren und jede Art von Glaubensbekenntnis, oder alle miteinander zulassen, so daß das Volk in religiöse Sekten zerteilt wird und das Gesetz der Einheit ganz verloren geht. Alle positive Wahrheit ferner als solche ist verachtet; denn wer soll sagen, wer Recht hat und wer Unrecht, wenn kein göttlicher Lehrer da ist? Wenn es keinen göttlichen Richter gibt, wer soll sagen, was wahr und was falsch ist zwischen widerstreitenden religiösen Meinungen? Ein Staat, der sich von der Einheit der Kirche getrennt und dadurch die Leitung des göttlichen Lehrers verloren hat, ist nicht im Stande, durch irgend eines seiner Tribunale, sei es ein bürgerliches oder ein geistliches, zu bestimmen, was in einer bestrittenen religiösen Frage wahr ist und was falsch. Und dann entsteht, wie wir wissen, ein tiefer Haß alles dessen, was Dogmatismus heißt, d. h. jeder positiven Wahrheit, alles dessen, was genau bestimmte Grenzen hat, jeder Glaubensform, die in besondern Dogmen ausgedrückt ist. Alles dies ist durchaus nicht nach dem Geschmack von Leuten, die grundsätzlich alle Arten von religiösen Meinungen ermutigen… Dies nun ist gerade der Zustand der Indifferenz, in welchen die Staatsgewalten allmählich hinabgesunken sind und ebenso die Völker, welche sie regieren.
Die Verfolgung der Wahrheit
Der nächste Schritt ist sodann die Verfolgung der Wahrheit.
Als Rom jeden Götzendienst im ganzen römischen Reiche erlaubte, gab es nur eine Religion, die man eine religio illicita nannte, eine ungesetzliche Religion, und es gab nur eine Gesellschaft, die eine societas illicita oder eine ungesetzliche Gesellschaft hieß….
Es gab Priester des Jupiter, der Cybele, der Fortuna und der Vesta; es gab alle möglichen geistlichen Bruderschaften und Orden und Sozietäten, und ich weiß nicht was; aber es gab eine Gesellschaft, welche nicht existieren durfte, und dies war die Kirche des lebendigen Gottes. Mitten in dieser allgemeinen Toleranz gab es nur eine Ausnahme, die mit der schärfsten Genauigkeit beobachtet wurde, wonach die Wahrheit und die Kirche Gottes von der Welt ausgeschlossen sein sollten. Dies nun muß unvermeidlich wieder kommen, weil die Kirche unbeugsam ist in der ihr anvertrauten Mission. Die katholische Kirche wird niemals eine Lehre auf das Spiel setzen; sie wird nie gestatten, daß zwei Lehrsysteme innerhalb ihres Schoßes vorgetragen werden; sie wird der Staatsgewalt nie gehorchen, wenn sie ein Urteil fällt in Sachen, die geistlich sind. Die katholische Kirche ist durch das göttliche Gesetz verbunden, lieber das Martyrium zu erleiden als eine Lehre aufzugeben, oder dem Gesetze der Staatsgewalt zu gehorchen, welches das Gewissen verletzt, und mehr als dies. Sie ist nicht nur verbunden, einen passiven Ungehorsam entgegen zu setzen, was in einem Winkel geschehen kann, und deshalb nicht entdeckt wird, und weil nicht entdeckt, nicht gestraft, sondern die katholische Kirche kann nicht stillschweigen; sie kann nicht ruhig sein; sie kann nicht aufhören, die Lehren der Offenbarung zu predigen, nicht nur über die Dreieinigkeit und über die Menschwerdung, sondern ebenso über die sieben Sakramente, über die Unfehlbarkeit der Kirche und über die Notwendigkeit der Einheit und über die Souveränität, sowohl die geistliche als die weltliche des heiligen Stuhls. Weil sie nicht still schweigen will und keinen Kompromiß eingehen kann, und weil sie in Sachen, die zu ihrer eigenen göttlichen Prärogative gehören, nicht gehorchen will, deshalb steht sie allein in der Welt; denn es gibt keine andere sogenannte Kirche, noch irgend eine Gemeinschaft, die sich für eine Kirche ausgibt, welche sich nicht unterwirft oder gehorcht oder stillschweigt, wenn die Staatsgewalt es befiehlt…. –
aus: Kardinal H. E. Manning, Der Antichrist oder Die gegenwärtige Krise des Heiligen Stuhles, 1861, S. 74; S. 76 – S. 80
Teil 2: Der Antichrist – Merkmale der Verfolgung
Bildquellen
- the-deeds-of-the-antichrist-1502: Wikiart