Das Kreuz im Rosenkranz
Das Kreuz ist Siegel und Wappen Gottes
Darum soll hier auch noch einiges über das Kreuz als Sache mitgeteilt werden, damit der Rosenkranz-Beter schon gleich beim Beginn des Rosenkranzes, schon gleich beim Kreuzzeichen über ein ansehnliches Kapital von Andacht verfügen könne.
Von einem heidnischen König wird erzählt, daß er jedesmal, sooft er auf Reisen ging, seine ganze Bibliothek, alle seine Bücher, die er sich mit vielem Geld zusammen gekauft, auf Kamele packen und mit sich führen ließ. Das war doch aber auf die Dauer eine gar beschwerliche Last. Daher ließ er sich zur größeren Bequemlichkeit beim Reisen von seinen Gelehrten aus allen seinen Büchern einen Auszug machen, den ein einziges starkes Maultier tragen konnte. Doch noch bequemer wollte der König seine Sache haben und ließ sich aus dem Auszug wieder einen Auszug machen. Daher bekam er am Ende den Extrakt seiner ganzen Bibliothek, den Kern, den kürzesten Inhalt aller seiner Bücher in ein einziges kleines Büchlein zusammen, das er nun selber auf der Reise mit sich tragen konnte. Mit der Zeit ward ihm aber gar noch das kleine Büchlein lästig. Darum ließ er sich aus des Auszuges Auszug noch einen Auszug machen und aller seiner Bücher Weisheit in einen einzigen Spruch zusammen fassen:
Den faßt` er ins Gemüt und konnt` ihn leicht behalten,
Um seines Heils danach und seines Reichs zu walten.
Was nun dieser König da in seinem letzten Auszug besaß, die Wissenschaft des Heils, das besitzt der katholische Christ ganz und kurz beisammen – im Kreuz.
Eine fromme Klosterfrau, Maria Viktoria Angelini, hat ihr ganzes Leben lang einen einzigen Brief geschrieben, und dieser Brief bestand aus einem einzigen Buchstaben, aus einem einzigen Zeichen das sie auf ein Blatt Papier gemacht und mit ihrer Unterschrift versehen an ihre Oberin geschickt. Dieser Buchstabe ist nun freilich so geheimnisvoll und inhaltsschwer, daß, wer ihn recht zu lesen versteht, Einblick in die Tiefe des Reichtums, der Weisheit und Wissenschaft Gottes erhält, und Bescheid weiß über die Dinge im Himmel, auf Erden und unter der Erde: dieser Buchstabe ist das Kreuz. Dieser Buchstabe also, der erste und der letzte im christlichen ABC, ersetzt jedem Christen den allerlängsten und interessantesten Brief, nur muss man ihn zu lesen verstehen, diesen geheimnisvollen Buchstaben!
Kaiser Titus hatte einen zahmen Hirsch, der im kaiserlichen Garten täglich gefüttert, dann aber in den Wald entlassen wurde, worin er frei herum laufen durfte. Nun hätte aber ein Jäger gar leicht das edle Tier als Jagdbeute ansehen und erlegen können. Darum ließ ihn der Kaiser ein goldenes Halsband anlegen mit der Inschrift: „Noli me tangere, Caesaris sum, rühre mich nicht an, ich gehöre dem Kaiser“.
Solch ein Zeichen aber hat unser lieber Herrgott allen seinen Geschöpfen aufgeprägt, um sie als sein Eigentum kennbar zu machen, und dieses Merkzeichen ist das Kreuz. „Die wunderbare Macht dieses Zeichens und seine tief eingreifende Bedeutung bezeugt uns“, sagt Görres, „die Natur und Geschichte bei jedem Schritt. Wie nämlich überall gewisse Grundzahlen dem Gewimmel der Zahlen überhaupt unterlegt erscheinen, so ist das Zeichen des Kreuzes als eine der Grundformen und Hauptzüge der Mannigfaltigkeit in den Dingen der Natur, und namentlich in der Gestalt des Menschen unterbreitet, durchgreift also das ganze Weltall, die Natur des Menschen und all sein Tun, somit auch die Geschichte“, um das bedeutsame Wort der heiligen Schrift zu erklären, daß Gott alles nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet. Daher findet denn auch derjenige, der mit einem frommen, christlichen Auge die Kreaturen betrachtet, überall die Gestalt, die Signatur, das Zeichen des Kreuzes: in der Gestalt des Kreuzes fliegt der Vogel durch die Lüfte, in der Gestalt des Kreuzes schwimmt der Fisch durch das Wasser, in der Gestalt des Kreuzes treibt der Baum seine Äste, die Pflanze ihre Blätter, in der Gestalt des Kreuzes blühen die Blumen. Man kann dies vielleicht in folgender Weise noch verständlicher machen:
Weltliche Fürsten und Obrigkeiten legen manchmal Siegel an, zum Zeichen, daß sie dasjenige, welchem sie Siegel anlegen, unter ihren Schutz nehmen oder als Eigentum mit Beschlag belegen und für unverletzlich erklären. Alle Geschöpfe aber, im Himmel, auf Erden und unter der Erde, sind Eigentum Gottes, wie es jener bezeugt, der vom Himmel singt: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und seiner Hände Wer zeigt an das Firmament“, und von der Erde beigefügt: „Des Herrn ist die Erde und alles, was sie erfüllt, und alle, die darauf wohnen“. Darum ist auch allen Geschöpfen das Siegel und Wappen Gottes aufgedrückt, und dieses Siegel, dieses Wappen ist das Kreuz. Wo also der Christ dieses Siegel findet, da soll er wissen und anerkennen, daß die Sache, die es trägt, das Eigentum Gottes, daß sie unter seinen besonderen Schutz gestellt, unverletzlich und heilig sei. Das aber hat zur Folge, daß jegliches Geschöpf, wie Hugo von Sankt Viktor so schön sagt, uns zuruft: „Vide home, schau, o Mensch, wie dich geliebt hat, der mich deinetwegen erschaffen hat“ Servio tibi, ich diene dir, damit du dienest ihm der mich und dich erschaffen hat, deinetwegen mich, seinetwegen dich; darum accipe, redde, time, nimm, danke, fürchte: accipe beneficium, nimm an die Gabe, redde debitum, statte ab den Dank, time abusum, fürchte den Missbrauch!“
Keinem Geschöpf ist aber dieses Siegel so deutlich aufgeprägt als dem Menschen. Wir lesen es in der Geheimen Offenbarung, wie ein Engel empor stieg von Sonnenaufgang, der das Zeichen des lebendigen Gottes hatte, um jene, die Gott gehören, an ihrer Stirne zu bezeichnen. Dieses Zeichen aber ist das Kreuz. Der Prophet Ezechiel sah einst im Gesicht, wie Gott einen Mann, gekleidet in Leinwand, ein Schreibzeug an seiner Seite, mitten durch Jerusalem gehen hieß, um auf die Stirn seiner Getreuen ein Tau, d. i. den Buchstaben T, zu zeichnen. Dieser Buchstabe hat aber sowohl in der lateinischen wie in der griechischen Sprache die Gestalt des Kreuzes (T). Allen Geschöpfen also, vorab dem edelsten derselben, dem Menschen, ist das Kreuz als Siegel, als Wappen aufgeprägt, um sie als erschaffenes, erlöstes und geheiligtes Eigentum Gottes zu kennzeichnen. Das macht doch aber in der Tat diesen Buchstaben zu einem tief bedeutungsvollen, inhaltsschweren Buchstaben! Mag also der einzige Brief, den die gottselige Klosterfrau Viktoria Angelini in ihrem Leben geschrieben, auch nur aus einem einzigen Buchstaben, dem Zeichen des Kreuzes, bestanden haben, so war und ist er doch für alle, die ihn zu lesen verstehen, höchst interessant.
Dem hl. Philippus Benitius war das Kreuz schon etwas mehr als ein Buchstabe, als ein Brief; ihm war es ein Buch, worin er jahraus, jahrein, Tag und Nacht studierte, ohne es auszustudieren; es ersetzte ihm jede Zeitung und alle irdische Unterhaltung; er fand in ihm stets neue Neuigkeiten, so daß er, als er ans Sterben kam, mit seinem Buch noch nicht einmal zu Ende war. Das wollte er aber vor seinem Tode doch noch ausstudieren. Darum verlangte er auf seinem Sterbebett nochmals – sein Buch. Die aber um sein Bett herum standen kannten es nicht, „sein Buch“. Deshalb holten sie ihm der Reihe nach verschiedene Bücher herbei, – er konnte nicht mehr reden, aber er wies alle zurück, mit dem Bedeuten, keines sei sein Buch. Man war also fast in Verlegenheit, dem Heiligen nicht einmal mehr seinen letzten Wunsch erfüllen zu können, und reichte ihm, um ihm für sein Buch wenigstens ein Ersatzmittel zu bieten, das Kruzifix, vor dem er täglich gekniet, gebetet und betrachtet. Aber das war ja gerade sein – Buch, in dem er lebend am liebsten las, das er sterbend nochmals verlangte. Kein Wunder also, daß sein brechendes Auge nochmals aufleuchtete und er das Kruzifix andächtig an seine Lippen preßte: sein letzter Wunsch war erfüllt. Es steht aber auch gar vieles in diesem Buch, alles, was einer braucht, um seines Heiles zu walten, und anderes Große noch dazu, den Ratschluss Gottes von der Erschaffung, Erlösung und Heiligung der Welt. Darum ist das Kreuz, bei Licht besehen, mehr als ein Buch, es ist, oder vielmehr es ersetzt seine ganze Bibliothek, eine ganze Sammlung von Büchern, und was alle Bücher der ganzen Welt, die bereits gedruckt sind und noch gedruckt werden, an Wissenschaft und Gelehrsamkeit enthalten, ist nichts im Vergleich zu der Weisheit, die wie ein verborgener Schatz im Kreuz verschlossen liegt. –
Der hl. Thomas von Aquin hat allein so viele und so große Bücher geschrieben, daß sie zusammen eine recht stattliche Bibliothek oder Büchersammlung ausmachen, und was an den Büchern dieses heiligen Kirchenlehrers die Hauptsache ist, ist dies, daß jedes sich mit staunenswertem Tiefsinn an die Lösung der höchsten Welträtsel macht, und diese, soweit es dem Menschengeist möglich ist, auch bietet. Forscht man aber im Leben des großen heiligen nach, woher er den Inhalt seiner Schriften habe, so macht man die überraschende Entdeckung, daß er ihn aus dem Kreuz geschöpft, vor dem er alle schwierigen Fragen, um Erleuchtung betend, sich überlegte und durchdachte. Es ist darum auch gar nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, das Kreuz ersetze dem Christen eine ganze Bibliothek, und darum sind wir Christen mit dem Kreuz glücklicher daran als jener König, der, um nicht länger nötig zu haben, alle seine Bücher auf hundert Kamelen sich nachtragen zu lassen, sich einen Auszug aus des Auszugs machen ließ. –
aus: Philipp Hammer, Der Rosenkranz, eine Fundgrube für Prediger und Katecheten, ein Erbauungsbuch für katholische Christen, I. Band, 1896, S. 88 -S. 93
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