Was für eine Liebe gäbe es ohne das kostbare Blut Jesu?
Von der Philanthropie und christlicher Liebe
Wir wollen uns nun in der Phantasie eine philanthropische Stadt ausmalen. Ihre Paläste sollen Spitäler sein, Spitäler für jede Art von Krankheit, die der Arzneiwissenschaft bekannt ist. Ihr Geschäft soll nicht Politik sein, sondern die Verwaltung wohltätiger Vereine. Ihre reiche Bevölkerung soll sich in unzählige Komitees teilen und unterabteilen, deren jedes irgend ein menschliches Elend zu seiner besonderen Fürsorge wählen soll. Ihr Verstand soll damit beschäftigt sein philanthropische Pläne zu entwerfen, neue Methoden und frische Organisationen zu erfinden und die Polizei, die Ordnung, die Bequemlichkeit und Geräumigkeit vorhandener Wohltätigkeits-Anstalten zur Vollkommenheit zu bringen. Die auffallendsten Erfolge sollen mit den Blinden Taubstummen und Irren erreicht werden. Überdies soll in dieser Stadt, die die Welt nie gesehen hat, die Philanthropie die freundlichste und gutmütigste aller Philanthropien sein, die die Welt zu sehen das Glück hatte.
Aber wer, der je die höchst schätzbare, gemächliche und gewissenhafte Kommission von Armenaufsehern betrachtet hat, kann zweifeln, daß im Ganzen bedeutende Trockenheit, Steifheit, Hölzernheit, theoretische Streitsucht, wohlwollende Halsstarrigkeit, lästige allgemeine Anordnungen und ärgerliche Verwunderung über die unlenkbaren, von Vorurteilen eingenommenen Armen diese philanthropische Stadt charakterisieren würden? Dem Elend kann nicht abgeholfen werden nach Regeln der Gerechtigkeit, die jedem das Seine zuteilt. Die Massen wollen sich nicht nach Theorien organisieren lassen. Herzen werden sich nicht glücklich fühlen durch klare Beweisführungen, daß sie glücklich sein sollten. Das Elend des Einzelnen hat eine tief eingewurzelte Gewohnheit seinen eigenen Trost vorzuschreiben. Den offenherzigsten Wohltätern würde Argwohn entgegen kommen. Ein bedürftiger Mensch kann die meisten Komitees an Witz überbieten. Die Maschinerie für Menschen gerät durch die Menge bald ins Stocken, fliegt meistenteils in die Luft und verletzt ihre vortrefflichen Erfinder. Es gibt wenige, die eine große Armee leiten können; und doch ist dies eine leichte Aufgabe im Vergleich mit der Frage, wie man die Armen behandeln soll. Überdies bleibt, wenn die besten Männer ihr Möglichstes getan haben, immer jener Instinkt in den Armen zurück, der sie nur Feinde in den Reichen sehen läßt, und jener Instinkt ist zu stark für die gesamte Weisheit aller Philanthropen in der Welt.
Ich bin weit entfernt zu behaupten, daß die christliche Mildtätigkeit vollkommen ist, oder daß die Dienstleistungen der katholischen Barmherzigkeit, gehen sie nun von Ordensleuten oder von Weltpriestern aus, nichts zu wünschen übrig lassen. Überall ist die Dürftigkeit des Almosens der Reichen die stehende Klage des Priesters. Überall spotten Umfang und Tätigkeit des menschlichen Elendes der Eile und dem Edelmut der christlichen Caritas und überholen sie.
Und doch glaube ich allen Ernstes, daß ein einziges Kloster von barmherzigen Schwestern oder ein einziges Haus des heiligen Kamillus in einer großen europäischen Hauptstadt mehr und mit größerem Erfolg wirken würde, als dies in der ganzen philanthropischen Stadt geschehen könnte, die wir uns eingebildet haben. Aus Liebe zu Jesus kommt die Liebe zu den Seelen und gerade die Liebe zu den Seelen ist es, die jene wunderbarste aller christlichen Umwandlungen hervor bringt, die Verwandlung der Philanthropie in christliche Liebe
Jesus mit der Samaritanerin beim Jakobsbrunnen oder mit der Magdalena im Hause des Pharisäers flößt einen ganz anderen Geist ein, als es derjenige ist, der den wohlwollendsten Philosophen beseelt. Es ist ein Geist der übernatürlichen Liebe, ein Geist der Nachahmung Jesu, ein Geist milden Eifers und liebevollen Opfers, der der Übung der christlichen Nächstenliebe eine gewinnende Anmut und einen namenlosen Zauber verleiht, die nur ihr eigen sind.
Die Liebe zu den einzelnen Seelen ist etwas rein Christliches. Keine Sprache kann sie denen beschreiben, die sie nicht fühlen. Wenn man sie sieht und nicht mit ihr gleich fühlt, dann mißversteht man sie so sehr, daß man sie Eigennutz nennt. Man schreibt dann den niedrigsten Beweggründen zu, was gerade aus den höchsten entspringt.
In der Tat sind von einem politischen oder philosophischen Gesichtspunkt jene Dinge, die in den Werken der Barmherzigkeit Christus am meisten ähnlich sind, gerade die Dinge, die manche als schädlich, wenn nicht als unmoralisch, verdammen. Nach ihrer Ansicht wird geschadet, wenn man die Menschen als Einzelwesen behandelt, nicht als Massen. Die Almosen werden verschleudert; Unwürdige erhalten sie. Das Elend, womit das Laster bestraft wird, ist ebenso der Gegenstand der Liebe als jenes, das durch unverschuldetes Unglück kommt. Die christliche Liebe kümmert sich zu wenig darum, ob sie getäuscht wird; sie folgt zu sehr plötzlichen Antrieben, ist zu unregelmäßig; zu begeistert; vor allem macht sie die Ruhe und Wohlfahrt des Staates nicht zu ihrem einzigen oder Hauptzweck.
Augenscheinlich sind also die Manieren und das Benehmen der christlichen Nächstenliebe in ihrer Tätigkeit ganz anders als die der Philanthropie in ihrer Tätigkeit. Die eine hat Erfolg bei den Menschen, die andere nicht, aber der Erfolg der christlichen Liebe ist dem Geist zu verdanken, den sie aus dem kostbaren Blute Jesu Christi in sich aufnimmt. –
aus: Frederick W. Faber, Das kostbare Blut oder Der Preis unserer Erlösung, 1920, S. 78 – S. 81