Gnadenorte unserer himmlischen Himmelskönigin
Unsere Liebe Frau Mariaschein in Böhmen (*)
Vor mehr als vierhundert Jahren ging eines Tages eine Dienstmagd vom Städtlein Graupen aus, in der benachbarten Flur Gras zu holen, und weil sie weiß, daß in der Gegend, wo jetzt die Gnadenkirche steht, und sonderlich um das Brünnlein herum, das schönste Gras wachse, begibt sie sich dahin, setzt Hand und Sichel an und fängt eifrig an zu grasen. Aber siehe, während der Arbeit springt ihr eine giftige Schlange an den Arm, wickelt sich um denselben, und fängt an, mit in die Höhe gehobenem Kopf auf eine gegenüber stehende und vom Alter ausgehöhlte Linde heftig zu zischen und zu pfeifen, ließ sich auch von dem jämmerlichen Geschrei der erschrockenen Dienstmagd nicht irren. Nach langem Zischen und Pfeifer wickelt sich die Schlange wieder ab, und ohne alle Verletzung springt sie vom Arm auf den Erdboden und ist weiter nicht mehr gesehen worden. Die vor Furcht und Schrecken halbtote Magd läuft eilends dem Städtlein zu und erzählt ihrem Herrn Alles, was sich beim Grasen mit ihr begeben hatte.
Nichts nahm der Bürger mehr in Acht als der Schlange Zischen gegen den Baum. Er denkt der Sache nach und mutmaßt nun, daß etwa ein Schatz im besagten Baum verborgen liege. Er unterredet sich im Geheimen mit einem Mitbürger, und beide gehen dem Baum zu, ihn zu besichtigen. Nachdem sie zu demselben gekommen, steigt Einer hinauf, räumt Laub und Ästlein weg, und findet zwar nicht einen reichen Goldschatz, wie er sich eingebildet, sondern das gnadenreiche Bildnis der schmerzhaften Mutter Gottes, – einen reichen Seelenschatz, von welchem nicht allein die Einwohner dieses Königreiches, sondern auch ausländische fromme Seelen genommen, und annoch reichlich zu nehmen haben.
Nachdem oben gemeldeter Bürger das heilige Bildnis gewahr geworden, ist er von einer heiligen Furcht ergriffen worden, hat sich auch dasselbe anzurühren nicht vermessen wollen, sondern sich mit seinem Mitbürger in die Stadt zum Pfarrherrn verfügt und ihm ordentlich erzählt, was sich mit seiner Dienstmagd, auch mit ihm selbst in dem graupischen Tal bei Auffindung des Bildes zugetragen.
Der Pfarrher, nachdem er sattsamen Bericht eingenommen, läßt durch ein gemeinsames Glockenzeichen das Volk in die Kirche rufen, verkündigt ihm, was er von oft bemeldtem Bürger gehört, läßt Kreuz und Fahnen vortragen, und geht mit dem gesamten Volk in größter Andacht dem hohlen Lindenbaum zu.
Sobald er des heiligen Bildes ansichtig geworden, hat er dasselbe mit inniger Andacht verehrt, mit tiefster Reverenz und Demut erhoben, dem umstehenden Volk gezeigt, und nach allgemeinem Rat mit fröhlichem Gesang, Gottes und Mariä Glorie preisend, in Begleitung des Volkes in die Stadtpfarrkirche getragen, daselbst es an einen besonderen Ort gesetzt und aufbehalten, erwartend mit größter Begierde, was Gott mit diesem so wunderbar gefundenen Bild schaffen und anordnen werde.
Das eifrige Volk konnte kaum das Tageslicht erwarten; es eilte des andern Tages sehr frühe in die Kirche, Maria, die reiche Mitbürgerin, zu begrüßen und ihr in ihrer neuen Residenz das erste Ave zu sagen. Aber weder Graupen, die Stadt, noch die Stadtkirche war der auserwählte Ort, in welchem die Himmelskönigin residieren wollte. Der reiche Himmelsgast wurde von dem andächtigen Volk an dem ihm gestern angewiesenen Platz nicht mehr gefunden. Man suchte auf allen Altären, in allen Winkeln der Kirche, aber alles umsonst: Mariä Bildnis (ohne Zweifel durch der heiligen Engel Dienst) hatte noch dieselbe Nacht ihre alte Stelle in der hohlen Linde wieder bezogen. Und es wird zum andern, auch zum dritten Male aus der Linde gehoben und in die Pfarrkirche getragen, aber zum andern und dritten Mal wieder in die Linde versetzt.
Wie solches die andächtigen Bürger vermerkt, haben sie Gott nicht versuchen, sondern in ihrer großen Andacht und Liebe gegen die Mutter Gottes zum wenigstens aus abgebrochenen, grünen Ästen und Zweigen dem heiligen Bildnis ein kleines Hüttlein, nahe bei der Linde, aufbauen und in demselben es täglich verehren wollen. Diese Andacht hat der hohen Himmelskönigin so wohl gefallen, daß sie bald angefangen, ihre Himmelsschätze den eifrigen Dienern reichlich auszuteilen und sie mit unverhofften, doch gewünschten Gaben an Leib und Seele zu beschenken. Da erhielten die Blinden das verlorene Augenlicht und viele andere kranke und presshafte Menschen wurden gesund. Und diese Guttaten waren gleichsam Posaunen, welche Mariens Freigebigkeit allenthalben ausgeblasen.
Aus der ärmlichen Hütte entstand bald eine kleine Kapelle mit einem Altar, auf welchen das Gnadenbild gesetzt wurde. Das Bildnis stellt die schmerzhafte Mutter Gottes, sitzend und in ihrem jungfräulichen Schoß den vom Kreuz abgenommenen göttlichen Leichnam Jesu Christi mit beiden Armen und Händen haltend, vor. Schon im Jahre 1500 musste die Kapelle wegen der Menge der Wallfahrer vergrößert werden, und im folgenden Jahr übernahmen die frommen Väter Jesuiten von Kommotau aus die Besorgung des Gottesdienstes.
Da gewannen die Wallfahrten selbst vor entfernteren Städten einen immer größeren Aufschwung. Die reichen Geschenke, welche die Wallfahrer machten, trugen absonderlich bei, daß im Jahre 1701 der Grundstein zu der gegenwärtigen großen Kirche gelegt und das Gottes nach 5 Jahren konnte vollendet werden. Sie enthält außer dem großen und schönen, zwischen vier vergoldeten Säulen stehenden, Hochaltar noch 6 Seitenaltäre, und die herrliche Kirche kann oft die Menge der Pilger nicht fassen, welche kommen, um sich von den Gnaden fließenden Händen U. L. Frau Hilfe und Beistand zu erflehen. (Kaltenbäck, Mariensagen.) –
aus: Georg Ott, Marianum Legende von den lieben Heiligen, Erster Teil, 1869, Sp. 273 – Sp. 275
(*) heutiges Bohosudov