Heiligenkalender
16. November
Heiliger Othmar von Sankt Gallen, Abt
Um das Jahr 700 studierte an der Domschule zu Chur in der Schweiz der junge Graf Othmar aus Schwaben; er überragte weit seine Mitschüler an schönen Eigenschaften des Geistes und Herzens, wie auch an reichen Kenntnissen in weltlicher und geistlicher Wissenschaft. Der mächtige Graf von Chur, Victor II., zeichnete ihn aus durch eine besondere Zuneigung und wünschte, ihn für seinen Dienst zu gewinnen. Aber der edle Othmar wollte seine Kräfte und Lebenstage nicht einem sterblichen Menschen, sondern dem ewigen und höchsten Herrn allein widmen, empfing die Priesterweihe und übernahm die Seelsorge der Gemeinde Remüs im Uterengadin. Der Eifer, mit dem er sich selbst und seine Pfarrkinder heiligte, und die vielen Bekehrungen, womit Gott seine Gebete und Arbeiten in der Umgegend segnete, gaben seinem Namen weithin einen guten Klang.
Im Jahre 719 suchte Waldram, Graf von Thurgau und Schutzvogt von St. Gallen, für dieses Kloster, das durch die wiederholten Plünderungen der Franken fast zu Grunde gerichtet war, einen Abt und ersuchte den berühmten Pfarrer von Remüs um Übernahme dieses Amtes. Othmar willigte ein, wurde von Karl Martell als Abt bestätigt und zog 720 das heilige Ordenskleid an. Mit kräftiger Hand begann er sein äußerst mühsames Werk. Um als Abt das Vorbild und die Leuchte seiner Brüder zu sein, übte er sich mit eiserner Ausdauer im Fasten und Betrachten, in Nachtwachen und gänzlicher Selbstverleugnung. An das Wunderbare grenzte seineTätigkeit; er richtete die zerstörten Gebäude wieder auf, leitete die Arbeiter, besorgte den Haushalt, sammelte die zerstreuten Mönche, vermehrte ihre Zahl durch Aufnahme junger Alemannen und Schweizer, führte die Regel des hl. Benedikt ein, erteilte Unterricht in den nötigen Wissenschaften und im geistlichen Leben, handhabte eine vortreffliche Ordnung, besorgte die Armen und Kranken und gewann viele Wohltäter. In wenigen Jahren stand St. Gallen in solcher Blüte und in solchem Rufe da, daß sich das neu errichtete Kloster Tegernsee von ihm Mönche erbat.
Othmar war überall der erste, beim Gottesdienste und nächtlichen Chorgebet, bei der Arbeit, beim Leiden und in den Werken der Nächstenliebe. Schon hatte er nahe beim Kloster ein großes Armen- und Krankenhaus eingerichtet, das er wie seinen Augapfel liebte; aber das genügte seinem mitleidigen Herzen noch nicht; er baute noch ein eigenes Spital für die Ärmsten, die aussätzigen, die er während der Nachtstunden meistens selbst pflegte; er wusch ihnen Kopf und Füße, reinigte ihre Eiterbeulen und reichte ihnen erquickende Nahrung. Am Tage war er wieder die treibende Lebenskraft des Klosters: er gründete ein Konvikt für studierende Jünglinge und eine Schule, die in der Folge Jahrhunderte lang für ganz Deutschland der Leuchtturm, in Kunst und Wissenschaft, Kultur und Gesittung wurde.
Der großartige Aufschwung von St. Gallen reizte die Habgier böser Nachbarn. Der Bischof Sidonius von Konstanz wünschte, daß von seinen drei Neffen der eine sein Nachfolger, der andere Abt von Reichenau, der dritte Abt von St. Gallen werde; die fränkischen Beamten: Warin, Gaugraf des Thurgau, und Rudhard, Gaugraf des Argengau, raubten dem Kloster St. Gallen mehrere Besitzungen. Othmar erwirkte wohl vom König Pippin den Befehl, daß diese Beamten den Raub sogleich zurück erstatten müßten. Allein „Gott wohnt in der Höhe und der König in der Ferne“, die Herren behielten ihre Beute, spotteten des wehrlosen Abtes und fügten neue Ungerechtigkeiten hinzu.
Othmar, väterlich besorgt um den Bestand und die Wirksamkeit seines Klosters, trat abermals die Reise zum König Pippin an, um Hilfe zu erlangen; aber die Grafen standen auf der Lauer und nahmen ihn gefangen. Um ihre Schlechtigkeit mit dem Schein ihrer Pflichttreue zu beschönigen, stellten sie den Gefangenen vor ein Gericht unter dem Vorsitz des Bischofs Sidonius, beschuldigten ihn des Ehebruchs mit einer kürzlich verstorbenen Frau und führten als Zeugen den bestochenen Mönch Lambert auf.
Othmar antwortete mit der himmlischen Ruhe, wie sie nur dem ganz reinen Gewissen eigen ist: „Ich bekenne, daß ich in vielen Stücken gesündigt habe; in Bezug auf dieses Verbrechen aber rufe ich Gott den allwissenden zum Zeugen meiner Unschuld an.“ Lambert aber bekräftigte seine Aussage mit dem Eid, und der Heilige wurde zu lebenslänglicher Kerkerstrafe im Schoß Bodmann, von dem der Bodensee seinen Namen hat, eingesperrt.
Unterdessen erreichte die Rache Gottes den meineidigen Zeugen, furchtbare Gliederschmerzen durchwühlten den Elenden, ohne ihn zu töten, bis er das gräßliche Verbrechen gegen den ganz schuldlosen Abt ausführlich bekannt hatte. Allein die Richter scheuten kein Mittel, dieses Bekenntnis zu unterdrücken und tot zu schweigen, und verboten, dem gefangenen Othmar Speise zu reichen, damit der Hunger sein Leben endige. Doch ein getreuer Klosterbruder fand Wege, zur Nachtzeit dem geliebten Abt Erquickung zu bieten.
Dem edlen Gutsbesitzer Gotzbert von Eschenz gelang es mit vieler Mühe, zu bewirken, daß die Kerkerhaft des hl. Othmar in die Verbannung auf die Rheininsel Werd, zwischen Stein und Eschenz, umgewandelt wurde. Noch zwei Jahre lebte der Heilige in dieser Einsamkeit, mit wunderbarer Geduld seine Leiden tragend, und in beständigem Gebet zu Gott für seine Feinde und für sein geliebtes Kloster, bis am 16. November 759 der Herr seinen treuen Diener aus der Verbannung heimholte in die Freuden des Himmels. Nach einander führte der Tod die Feinde des Heiligen in auffallender Weise vor das Gericht Gottes, und die Mönche von St. Gallen beeilten sich, den heiligen Leib ihres geliebten Abtes in die Klosterkirche feierlich abzuholen, wo er durch Wunder leuchtete.
Am Grabe des hl. Othmar auf der Insel Werd suchen und finden jetzt zahlreiche Wallfahrer wunderbare Erhörung ihrer Bitten. –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 853 – S. 854