Engelgeschichten Die letzten Kinder

Das Ende der Welt:  O glücklich die Kinder, die Jesus gehören

Die Engel führen die letzten Kinder durch den Dschungel zum Priester, um vor dem Ende der Welt getauft zu werden;

Engelgeschichten: Die letzten Kinder

„Ach, ach, ach“ seufzte der Mitternachtswind, als er über den mächtigen brasilianischen Urwald dahinfuhr. Die schlanken Palmen zitterten und bewegten ihre grünen Fächer auf und ab, um die Kühle des Ozeans, die mit der Brise hereinkam, ganz aufzufangen, und ihre Kuppeln aus gefiederten Blättern schaukelten hin und her wie Schiffe, die vor Anker liegen.
„Lilalpa“ sagte Oniato, „der Tod muss sehr schön sein; denn der Tod ist Gottes Nacht.“
„Aber das Licht ist doch schöner als die Dunkelheit“, erwiderte Lilalpa. „Das darfst du nicht sagen, liebe Schwester“, antwortete Oniato, „die Dunkelheit ist schöner als das Licht. In der Dunkelheit sehen wir Gott besser.“
„Warum wandern deine Gedanken in der letzten Zeit so oft zu Gott, lieber Bruder?“ fragte Lilalpa. „Gott! Gott! Das ist ein schönes Wort, und es läßt mein Herz so eigen schlagen. Wo ist Gott? Wer ist Gott?“
„Ich weiß es nicht, Lilalpa. Aber wenn Dinge unser Herz schlagen machen, dann müssen es wirkliche Dinge sein. Es muss ein Gott da sein, auch wenn sein Name vielleicht nicht Gott ist.“
„Ach, Oniato, jetzt weiß ich, warum du die Dunkelheit so gern hast. Deshalb, weil sie dich mehr an Gott denken läßt. Schöne Dunkelheit! Es ist, als wäre sie ein Zuhause.“
„O ja, Lilalpa, und als ich den Missionaren zuhörte, wie sie mit Vater redeten, da dachte ich manchmal, das Licht wäre wirklich Dunkelheit und die Dunkelheit wäre wirklich Licht und sie hätten nur miteinander abgemacht, daß das eine so aussieht, als wäre es das andere, anstatt daß sie so ausschauen, wie sie eigentlich sind.“
Die Nacht war wirklich schön; es war eine Nacht, in der man glauben konnte, daß Kinder wie Engel miteinander sprechen. Was mögen sie von dem, was sie zueinander sagten, verstanden haben?

Sie wanderten weiter und verloren sich im Walde. Die Zweige schlossen sich über ihren Häuptern zusammen wie das Gewölbe eines Domes. Sie hörten, wie die wilden Tiere miteinander zankten, aber es hörte sich mehr an wie eine Klage als wie ein Streit. Dann und wann war es ganz still, und es kam den Kindern vor, als hörten sie die Erde atmen. Doch gerade, als sie sich davon überzeugen wollten, ließ plötzlich ein Nachtvogel von hohem Gezweig her Teile eines klaren Liedes in das Ohr der alten Nacht einströmen. Warum ist die Nacht alt? Warum sollte sie älter sein als der Tag? Niemand weiß es, aber jedermann sagt es und fühlt es, daß es so ist.
Immer wieder sahen sie, wie die Sterne am Himmel kämpften. Lilalpa glaubte wenigstens, sie kämpften. In Wirklichkeit aber war es so, daß die schwankenden Zweige einmal die Sterne sehen ließen und sie dann wieder verbargen. Es gab in jenem Walde viel zu sehen und zu hören, was die Kinder nicht verstanden. Aber sie erfühlten alles, und wenn sie es fühlten, dann sagten sie flüsternd zu sich selbst: „Gott! Gott!“ Wir fühlen die Zeit der Nacht. Am Tage sieht uns Gott. In der Nacht sehen wir Gott. Gott auf Erden sehen heißt, Ihn fühlen. Fühlen ist wohl die beste Weise, zu sehen.

Warum hatten diese Kinder ihr Heim verlassen? Sie werden niemals dorthin zurückkehren. Das Ende der Welt wird in einer Stunde kommen, und sie werden in den Wassern des Waldes sterben, und da sie vorher eigentlich tot waren, werden sie durch das Sterben lebendig werden. O gesegnetes Wasser des Waldes! Gesegnet sind alle Wasser des Waldes, die Holz mit sich führen, das Holz des Kreuzes nämlich.
„O Lilalpa, ist das nicht sehr erhaben? Horch, wie der Wind klagt! Er hat eine Stimme wie unsere verstorbene Mutter mit dem weißen Gesicht. Lilalpa, im Schlafe sehe ich Mutter manchmal. Aber höre auf den Wind! Er singt, als wäre er unglücklich. Vielleicht ist der Wind ein Gott.“
„Aber, Oniato, wenn er ein Gott wäre, würde er nicht unglücklich sein.“
„O Lilalpa, immer wieder frage ich: Wer ist Gott? Wir haben keinen Gott, wir sind nicht wie die Christen mit den weißen Gesichtern, die zu uns kommen und wie jene, von denen man sagt, sie seien vor Tausenden von Jahren Könige in diesem Lande gewesen. Sie haben einen Gott, den sie lieben. Wie großartig sind die Ruinen ihrer Kirchen! Unsere Mutter, so erzählen die Leute, war ein Weißgesicht, und sie hatte auch einen Gott und liebte Ihn. O Lilalpa! Ich muss einen Gott haben, und wenn es nur wäre, um jemand zu haben, den ich lieben könnte.“
Lilalpa brach in Tränen aus.
„Liebe Lilalpa“, sagte Oniato, „du weißt, wie gern ich dich habe, du weißt, was ich meine.“
„O ja, Bruder“, entgegnete Lilapa, „ich bin nicht unglücklich. Ich weiß recht gut, was du meinst; denn ich fühle das gleiche wie du. Ich habe dich so gern, daß mir manchmal das Herz weh tut.“
Und Oniato schlang die Arme um sie und sagte: „Wir wollen heut Abend Gott finden.“ Der Widerschein eines Sternes glänzte in Lilalpas Augen auf. Manchmal scheinen die Sterne durch ihr Leuchten beinahe zu sprechen.
„Ach, Oniato, wenn doch unser Vater jene weißgesichtigen Priester nicht in den Feuern der Schlangentempel verbrennen würde! Sogar jetzt kommt es mir vor, als wäre der Wind erfüllt von jenem Seufzen und Stöhnen, das aus dem Feuer drang.“
„Und doch, Lilapa, es ist nicht wie das Rufen, das aus Schmerz oder Ärger kommt.“
„Nein, das ist eben das Seltsame.“
„Lilapa, ich kann in Vaters Palast nicht mehr atmen. Ich habe dich absichtlich hierher gelockt. Laß uns Gott finden! Wenn nicht, dann wollen wir im Walde leben und hier sterben wie die Blumen. Wir wollen den weißgesichtigen Mann Gottes suchen, den Vater heute in den Wald getrieben hat, damit er dort verhungere oder von den wilden Tieren gefressen werde. Ich habe in den Kleidern eine Flasche Wein versteckt, die wollen wir ihm geben, wenn wir ihn finden.“
„Sollen wir die lieben Sterne da oben bitten, uns zu ihm zu führen, Oniato?“
„Nein, Lilalpa, sein Gott wird am besten wissen, wo er ist. Die Augen der Sterne scheinen überall zu sein. Aber ich denke, wir sollten statt zu ihnen, besser zu seinem Gott beten.“
„Schau, Oniato! Die Erde brennt!“
„O nein, Lilalpa! Das sind nur die Leuchtkäfer. Komm, wir wollen ihnen folgen! Sie sind die lebendigen Sterne des Waldes. Vielleicht hat Gott sie geschickt, um uns zu führen.“ Sie folgten also den Leuchtkäfern.
„Ach, ach, ach“, seufzte der Wind; denn er war um die ganze Welt gefahren, und er war sehr müde. Die Leuchtkäfer spielten um die Köpfe der Kinder und bildeten einen Glorienschein, wie man ihn auf Bildern um die Häupter der Heiligen sieht. Einige Leuchtkäfer schwebten wie kugelförmige Lampen vor den Kindern her, und es schien, als wiesen sie ihnen den Weg. Viele wilde Tiere streiften umher. Flammenäugige Kuguare schauten auf die Kinder, als Sie an ihnen vorübergingen. Doch die wilden Tiere wagten nicht, ihnen etwas anzutun, weil sie bei den Kindern drei Engel erblickten, die für die Kinder aber unsichtbar waren. Zwei waren die Schutzengel der Kinder, und der dritte war der Engel des Sakramentes der Taufe.

Welch ein Schweigen! Tiefes, tiefes, tiefes Schweigen! Schweigen oben, Schweigen unten, Schweigen überall.
„Oniato“, sagte Lilalpa, „Schweigen gleicht mehr einem Gott als der Wind.“
Es war fast Mitternacht. Im Herzen des Waldes öffnete sich langsam eine sehr große Blume, und sie blühte auf und erfüllte den ganzen Wald mit auserlesenem Duft.
„O Lilalpa, das ist die Mitternachtsblume! Wie gern möchte ich eine Mitternachtsblume sein, blühen, ohne daß jemand anders es merkt als Gott. Ich glaube, Er erschuf die übrigen Blumen für uns, aber diese eine wollte er ganz für Sich allein haben. Er behält ihre Schönheit und ihre Schönheit und ihren Duft für Sich in der einsamen Dunkelheit. Sie duftet so süß wie das Fleisch der bleichgesichtigen Priester in den Flammen des Feuers. Dieser Duft kommt manchmal aus dem Walde durch mein Fenster zu mir. Ich muss dann immer an Gott denken.“
Die lieben Kinder waren wirklich wie Mitternachtsblumen, und die Stunde ihres Blühens stand bevor.
„O Oniato, was für ein ein schöner, sanfter Donner ist das?“
Sie waren unter dunklen Zedern in die Nähe eines Wasserfalls gekommen. Durch die schwarzen Zweige sahen sie seinem Schaum glitzern.
„Oniato, der Wasserfall spricht zu mir wie die Stimme eines Gottes.“
„Vielleicht gibt es keinen Gott außer Christus, Lilalpa. Er macht, daß die weißgesichtigen Priester im Feuer süß duften.“
„Pst, pst, Oniato, schau auf den Kreis der Leuchtkäfer unter der Palme. Dort sitzt der christliche Priester auf einem Felsen am Flusse. Er lehnt gegen einen Baum.“

In diesem Augenblick donnerte es unter ihren Füßen. Der Wald schwankte und krachte, und der Boden zitterte wie das Segel eines Schiffes, wenn der Wind nachläßt.
Sie gingen zu dem Priester. Er schien zu schlafen; dem war aber nicht so. Er war vor Hunger ohnmächtig geworden. Sein Gesicht war sehr schön. Wenn die Leuchtkäfer verschwanden, dann war es wie das Mondlicht; es leuchtete mit mildem Schein wunderbar in der Dunkelheit der Nacht.
„Oniato“, flüsterte Lilalpa, „das Licht seines Gottes leuchtet auf seinem Angesicht.“
Wieder grollte der Donner unter ihren Füßen. Sie blickten empor. Grüne, violette und hochrote Meteore stürmten am Horizont einher und zerbarsten in der Luft. Seltsame Kinder – sie fürchteten sich nicht. Jene, die Gott suchen, fürchten nichts.
Sie gingen auf den Priester zu und flößten ihm etwas Wein ein. Er kam wieder zu sich, öffnete die Augen und schaute sie an.
„Meine Kinder, wer seid ihr?“
„Wir sind die Kinder des Königs. Wir möchten deinen Gott kennenlernen.“
Er lächelte, umarmte sie und sagte: „Ihr sollt wahre Königskinder werden.“
Wieder donnerte es unter ihren Füßen, und es donnerte über ihren Häuptern, und die Bäume klagten, und die Meteore zerbarsten.

Und er erzählte ihnen von Bethlehem.
Sie vernahmen ein zischendes Geräusch. Ein großer, dunkler Berg erhob sich ihnen gegenüber auf der anderen Seite des Flusses, und siehe: Der breite, kräftige Strahl eines violetten Blitzes zerspaltete den schwarzen Berg. Plötzlich trat Stille ein.
Und er erzählte ihnen von Nazareth.
Man hörte ein fernes Brüllen. Ein Wirbelwind erhob sich. Er entwurzelte alle Bäume und trug sie meilenweit durch die Lüfte. Der schwarze Berg versank mit lautem Krachen in der Erde. Doch die Kinder wurden nicht verletzt. Dann hörten sie wieder das Rauschen des Stromes in der Stille der Nacht. Es war wenige Minuten vor Mitternacht.
Und der Priester erzählte ihnen von Kalvaria.
Und sie falteten die Hände und weinten.
Und siehe da! Tausende von wilden Tieren stürzten heulend und klagend an ihnen vorbei! Ein mächtiges gelbes Feuer, das wie ein Strom aus der Erde hervorgebrochen war, verfolgte sie. Den Priester und die Kinder aber verletzte es nicht.
Und er erzählte ihnen vom Ölberge und von der Himmelfahrt Christi und von Seiner Wiederkunft zum Jüngsten Gericht.
Und Lilalpa ergriff Oniatos Hand, und beide schauten zum Himmel empor und sagten: „Jesus! Jesus!“
Und der Priester sah lächelnd auf sie und weinte.

Und plötzlich erschien ein ehrwürdiger, weiß haariger Greis auf der anderen Seite des Flusses und sagte: „Es ist Zeit!“
Und der Priester sagte: „Lieber, heiliger Joseph, ich folge!“
Und er führte die Kinder an den Rand des Felsens und sagte: „Ihr habt mir Wein gegeben. Ich will euch Wasser geben. Wasser, in dem das Blut Jesu verborgen ist.“
Und er erklärte ihnen die Taufe, und sie baten, getauft zu werden.
Und der Himmel öffnete sich mit einem scharfen, weißen Licht, und sie sahen, wie eine ungeheuer große, runde Strahlenkrone wie ein Sonnenaufgang schnell von Osten her auf sie zukam.
Und der Priester sagte: „Es ist Herr!“
Und er taufte die Kinder.
Und als sie getauft waren, sagten sie: „Lieber Jesus, komm!“

Und das Erdbeben erschütterte den Felsen, auf dem sie standen. Er stürzte hinunter in das schäumende Wasser, und der Priester hatte den Arm um sie gelegt, und im Sturz sahen sie, wie St. Joseph ihnen zulächelte und nach oben zeigte, wo die himmlische Frau, ganz von goldenem Lichte umflossen, sie erwartete.
Zuerst meinten sie, es wäre ihre Mutter. Doch die Frau war schöner als ihre Mutter, und obgleich es seltsam klingen mag, ihr Gesicht war noch mehr von Liebe erfüllt als das ihrer Mutter. Aber jeder, der die himmlische Frau zum ersten Male erblickt, meint, sie gleiche seiner Mutter, weil ihre Schönheit so mütterlich ist.
Dann küßten sie einander und sagten: „Die Engel flüstern uns zu, daß es Maria von Bethlehem ist“, und sie riefen: „Maria! Liebe Maria!“ Und alle drei versanken im kalten Wasser, und es donnerte lauter als zuvor, und sie umschlangen einander fest. Einen Augenblick tat es weh. Dann wurden ihre Ohren von dem Tönen der Harfen erfüllt, und als sie die Augen öffneten, hatte sich das Wasser in Licht gewandelt, und das war der Himmel.

Die beiden waren die letzten Kinder, und so endete die Welt. Für Oniato und Lilalpa war es eine schöne Mitternacht. Nun ist es Tag für sie, ewiger Tag. O glückliche Kinder, die Jesus gehören und durch Sein kostbares Blut gerettet worden sind! –
aus: F. W. Faber, Engelgeschichten, Berlin 1947

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