Die Ehrwürdigkeit des Arbeiterstandes
Die Großkapitalisten höhnen herüber: „Ihr seid im Unrecht mit eurem Zürnen und Schimpfen. Die Arbeit ist eine wohlfeile Ware, ihr Wert wechselt je nach dem Angebot oder der Nachfrage. Es ist ein uraltes Gewohnheitsrecht: „der Käufer kauft so wohlfeil als er kann; der Verkäufer verkauft so teuer als er kann.“ Die Arbeiter und Handwerker gellen hinüber: „Ihr seid herzlose Schelme und grausame Räuber; ihr schwelgt im Überfluss und wir sterben vor Elend. Wir sind Menschen wie ihr; wir haben das Recht und das Bedürfnis, zu genießen und glücklich zu sein wie ihr; wir glauben die Mehrzahl – an die Seligkeit im Himmel so wenig als ihr; wir wollen jetzt, auf der Erde, Genuss und Wohlsein haben wie ihr. Die fruchtbare Erde ist das Gemeingut aller Menschen, nicht bloß der fetten Kapitalisten. Sonderbesitz oder Privateigentum ist daher Diebstahl und Raub, nur vom Sonnenlicht und Mondschein, von der Luft und Kälte, können wir nicht leben. Fort mit der Religion, welche nur von Jenseits und Ewigkeit schwätzt, aber im Diesseits keine Gleichheit, keine Gerechtigkeit zustande bringt; fort mit dem kostspieligen Militarismus, welcher nur eure Geldsäcke schützt und unser Elend drückender macht.“
Um über den Abgrund zwischen den zwei feindlichen Parteien eine Brücke zu bauen und sie zu einem gedeihlichen Frieden zu vereinigen, ist man mit der Lösung dieser wirtschaftlichen Arbeiterfrage hitzig beschäftigt überall…; aber bislang fruchtlos, weil die Hauptperson – der liebe Gott, der Schöpfer und Erhalter der ganzen Welt – in diesen Zusammenkünften Sitz und Stimme nicht hat. Wohl hat Papst Leo XIII. am 17. Mai 1891 (Anm.: „Rerum novarum“) allen diesen Staatskünstlern einen bewunderungswürdigen Plan zum Bauen dieser Brücke vorgelegt, allein gerade weil er vom Statthalter Jesu Christi gezeichnet ist, darum findet er nicht den Beifall und die Zustimmung derselben…
Der Mensch ist nicht ein fortschrittlich entwickeltes Tier, nicht ein aufgeklärter Sohn des unzivilisierten Vaters, des Affen Orang-Utan, sondern eine Person, ein Ebenbild Gottes. Im Menschen ist freilich das Wesen des Tieres, er findet in sich beide Triebe oder Instinkte des Tieres: den Trieb der Selbsterhaltung und der Fortpflanzung; aber auch ein Mehreres und Höheres. Er findet in sich das Selbstbewusstsein und besitzt die Kraft der Selbstbestimmung mit unverletzbaren Rechten; er hat Verstand und freien Willen; er ist eine Person und – das ist kein Tier. Der Mensch als sinnlich-geistiges Wesen braucht die Güter der Erde zu seiner Selbsterhaltung und Fortpflanzung. Die Erde aber ist nicht an und für sich schon brauchbar zur Befriedigung seiner Bedürfnisse, sondern sie fordert Arbeit von ihm, um dazu brauchbar zu werden. Weil er aber Verstand und freien Willen, die macht der Selbstbestimmung innerhalb der ewigen Gesetze und der allweisen Vorsehung Gottes hat, so bestimmt er sich seine Arbeit selbst nach seinem Ermessen, er beteiligt sich am Ackerbau, am Weinbau, an einem Industrie- oder Kunstgewerbe, wie er es für sein eigenes Wohl in der Gegenwart und in der Zukunft für das beste hält. Der Mensch also muss arbeiten, um genießen zu können und zu dürfen. Den uralten Grundsatz: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, handhaben ja auch die wider die Drohnen Krieg führenden Bienen.
Allein die Arbeit ist nicht bloß der Weg zum vollen Brotkorb, sondern auch der einzig unentbehrliche Weg zu den Stufen der Ehre und des Glückes. Denn die Arbeit weckt, belebt, entwickelt am wirksamsten die im Kinde noch schlummernden Kräfte und Anlagen; sie beglückt den Jüngling und die Jungfrau durch die Süßigkeit ihrer Erfolge und Früchte; sie gewährt kräftigen Schutz der göttlichen und sittlichen Tugenden jedem Alter; sie stählt den Edelmut des Charakters; sie befähigt zum opferwilligen Dienst für die Ehre Gottes und das Wohl der Mitmenschen. Hingegen „Der Müßiggang lehrt viel Böses“ (Sir. 33,29), er ist aller Laster Anfang. Ach wie viele Leute leben unzufrieden und nagen grimmig am Hungertuch, weil sie die Süßigkeit der Arbeit niemals kosten gelernt haben, und setzen ihre schändliche Hoffnung auf den Sozialismus, auf die allgemeine Gütergemeinschaft! Und wie schwer freveln am Volkswohl die reichen Pflastertreter, welch durch ihr Parademachen im Frühling, durch ihre Bummeleien an den Kurorten im Sommer, durch ihre Jagden im Herbst, durch ihre Bälle im Winter den darbenden Mitmenschen den Humor verderben!
Seit dem Sündenfall ist die Arbeit freilich eine Last mit Schweiß, Müdigkeit und Gefahr. Allein zwei starke Helfer mildern und erleichtern dem Menschen diese Last und verwandeln seine Traurigkeit in Freude. Der eine Helfer ist das Bewusstsein: „Gott will, daß ich im Schweiß des Angesichts arbeite, und er zahlt mir sehr großen, ewigen Lohn“; der zweite Helfer ist das Bewusstsein: „Die Entlohnung der Arbeit ist mein Verdienst, mein Eigentum; je mehr und geschickter ich arbeite, desto mehr verdiene ich, desto reicher werde ich.“ –
aus: Otto Bitschnau, Christliche Standesunterweisungen, 1896, S. S. 371 – S. 377