Die Aszese des göttlichen Heilandes
Über die wichtige Bedeutung der Aszese
Bezüglich der Übung der Aszese sind drei Stücke ins Auge zu fassen, die höchste Regel und das höchste Prinzip der Aszese, dann das Ziel. Endlich die Mittel der Aszese.
Höchstes Prinzip der Aszese
Bestimmende Regel und höchstes Prinzip der Aszese ist die Glaubens- und Sittenlehre. Immer nimmt das religiöse Leben von den philosophisch-theologischen Anschauungen und Überzeugungen Leitung und Gestalt an: das beweist die Geschichte der Aszese oder des religiösen Lebens bei allen Völkern der Alt- und Neuzeit. Für die christliche Aszese, eben weil sie Übung des übernatürlichen Lebens ist, tritt, ohne die Vernunft-Wahrheiten auszuschließen, der Glaube, die Wissenschaft des Übernatürlichen, als Leiter und Führer ein. Der Glaube allein kann uns die rechte und ausgiebige Antwort über Gott, über die Welt und über den Menschen geben und die Sittenlehre wendet die Glaubens-Wahrheiten in Gebot und Verbot praktisch auf das Leben an. Jede Aszese, welche gegen die Wahrheiten und Grundsätze der Vernunft, des Glaubens und der Sittenlehre verstößt oder sich von ihnen entfernt, ist eine irrige und falsche, ist wie ein Versehen in der Rechnung oder ein verfehlter Schluß aus richtigen Vordersätzen. Es läßt sich dieser Grundsatz selbst ausdehnen auf die Standespflichten, die Ordensregeln und die allgemein geltenden Gebräuche in der Kirche. Eine Aszese, die dieses verachtet, kommt nicht von Gott; denn Gott widerspricht sich nicht. Es folgt ebenfalls aus dem Gesagten, daß die Aszese ebenso wenig wie vom Glauben und von der Sittenlehre als von dem Evangelium getrennt werden kann. Das Evangelium ist ja der Inhalt der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, und ein Teil dieser Sittenlehre ist die Aszese. Sie behandelt im besonderen das Wesen und die Mittel der Vollkommenheit. In keiner Weise also läßt sich die Aszese von dem Evangelium ablösen.
Das war der Grund, weshalb der Heiland stets so sehr auf Glauben und Beobachtung der Gebote drang und letztere einfach als den Weg zum Himmel bezeichnete. „Willst du zum Leben eingehen, halte die Gebote“ (Mt. 19,17), die der Ausdruck des verbindenden Willens Gottes sind. Deshalb verwahrte er sich so ernst dagegen, daß er ein Verächter und Verwüster des Gesetzes sei, im Gegenteil, er sei gekommen, das Gesetz zu erfüllen (Mt. 5,17 u. 18). Seine Entscheidungen führte er gewöhnlich auf das Gesetz zurück (Lk. 10,26; Mt. 22,40). Seine eigene Heiligkeit setzte er gerade darein, den Willen seines himmlischen Vaters zu tun (Joh 5,30; 6,29 u. 38; 14,31). Selbst in zeitweiligen Heilsvorschriften, die nicht allgemein und schwer verbinden, sollen wir uns nach seiner Ansicht und nach seinem Beispiel dem Willen Gottes unterwerfen. Man muß alle Gerechtigkeit erfüllen (Mt. 3,15; Lk. 7,30). Die Strenge Aszese der Pharisäer imponierte ihn gar nicht. Er verurteilte sie scharf (Mt. 5,20). Sie ist ihm ein Gräuel (Lk. 16,15). Ihre Träger setzen ihre Menschen-Satzungen über Gottes Gesetze (Mt. 15,3; 23,23), sie sind verdeckte (Lk. 11,44) und aufgeputzte Gräber (Mt. 23,25 u. 27), Heuchler und Volksverführer (Mt. 23, 13 u. 15); er verkündet ihnen den Untergang, denn „die Pflanzung, welche der Vater nicht bereitet, wird ausgerissen und vertilgt“ (Mt. 15,13). Sehr bezeichnend ist hier, daß der Heiland will, man solle sich der amtlichen Lehre der Pharisäer und Schriftgelehrten unterwerfen, nicht aber ihrem Lebensvorbild (Mt. 23,3). Um so mehr fordert er Unterwürfigkeit gegen die Kirche (Mt. 18,17). Der Herr hat die Aszese, die Übung des religiösen Lebens, nicht der Willkür eines jeden überlassen, sondern das ganze Gebiet der Religion der Kirche zugewiesen. Unzählige Male hat sie von dieser Gewalt Gebrauch gemacht zur Regelung und Ausgestaltung des religiösen Lebens. An sie sind wir also gewiesen. Vor ihr gilt keine Reichs-Unmittelbarkeit. Glaube ohne Werke ist ebenso schlimm wie Werke ohne Glauben.
Das Ziel der Aszese
Das zweite Höchmaßgebende bei der Aszese ist die Rücksicht auf das Ziel. Das Ziel ist bei allen Dingen das Wichtigste. Es zeichnet dem Willen die Richtung, gibt Mittel und Beweggründe, dieselben anzuwenden, und verleiht dem ganzen Streben sittlichen Wert und Würde.
Das Ziel der Aszese nun ist ein doppeltes: ein entferntes, letztes, und ein näheres und unmittelbares.
Das unmittelbare Ziel
Das nächste, unmittelbare Ziel ist die Erfüllung des Willens Gottes bezüglich unseres Standes oder die Erfüllung unserer Standes-Obliegenheiten. Die Aszese und alles, was in ihr liegt, muß uns zunächst befähigen, nach unserem Stand zu leben und wirklich das zu sein, was wir nach demselben sein sollen, gute Priester, gute Ordens-Männer, gute Familien-Väter und gute Studenten. Deshalb sagt der hl. Ignatius, das Ziel der geistlichen Übungen und des ganzen geistlichen Lebens sei, den Willen Gottes erkennen und nach demselben sein Leben einrichten. Allerdings betreibt die christliche Aszese den Beruf im Staat, im Haus, im gesellschaftlichen Leben und im Geschäft nicht seinetwegen, sondern als den Willen Gottes, aber eben deshalb um so mehr mit Herz und Eifer. Die Aszese, die uns in den Stand setzt, unserem Beruf vollkommen nachzukommen, ist die rechte, vernünftige und gesunde Aszese. Sie gefällt Gott, schafft Verdienst, erbaut und stuftet wahren Nutzen. Alles andere ist Luxus und eine glänzende Unordnung im geistlichen Leben.
Wie schön ist diese Wahrheit im Leben des Heilandes zur Anschauung gebracht! Das ganze äußere Erscheinen des Herrn und die Anlage seines Lebens findet in diesem nächsten Zweck ihre Erklärung und Rechtfertigung. Der Heiland sollte allen, dem Welt-, Priester- und Ordensstand, Beispiel und Vorbild sein. Deshalb wählte er nicht das Einsiedler-Leben, sondern lebte stets in der Welt unter Menschen; deshalb verblieb er bis zum dreißigsten Jahr in der Übung eines gewöhnlichen, arbeitsamen, untertänigen und verborgenen Lebens, da ja der größte Teil der Menschheit in solchen Verhältnissen sein Heil wirkt; deshalb vollführte er sein Lehramt in großer apostolischer Armut und Losschälung, alles aber in weiser Mäßigung, damit er allen alles sein könnte (S. Thom. 3, q.4,a.) Die Vollkommenheit besteht eben nicht in dem Reichtum und nicht in der Armut, nicht in der Abgeschiedenheit und nich im Verkehr mit der Welt, nicht im Beten und nicht im Arbeiten, sondern im weisen Gebrauch von all diesem, um den Willen Gottes in seiner Lebenslage zu vollziehen. Von diesem Standpunkt allein läßt sich das Leben Jesu erklären, das für das natürliche Auge in mancher Beziehung so viel Befremdendes hat. Der Wille Gottes ist der goldene Faden, der sich durch das wunderbare Leben und Wirken des Gottmenschen hindurch zeiht.
Das entferntere Ziel
Das letzte Ziel und Ende der Aszese aber sowie alles Geschaffenen ist das Heil der Seele und die ewige Seligkeit. Es ist die Rücksichtnahme auf dieses letzte Ziel deshalb so wichtig, weil erstens von ihr alle Ordnung, Klarheit und Verdienstlichkeit des Lebens abhängt – man läuft sonst Gefahr, im nächsten aufzugehen, es als letzten Zweck zu behandeln und selbst das Heiligste handwerksmäßig zu vollziehen; zweitens weil von dieser Rücksicht auf das letzte Ziel auch die Kraft und Ausdauer und Freudigkeit beim Wirken kommt – denn die Mittel sind ja oft kleinlich, widerwärtig und anstrengend, und deshalb muß man sich durch den Hinblick auf das große Ziel stärken und ermuntern.
Es ist ein bedauerlicher Mißgriff in der Aszese, von den Menschen Arbeit, Mühe, Opfer und Entbehrung zu fordern, ohne sie aufmerksam zu machen auf das große, herrliche Ziel, das für alles reichlich entschädigt. Es heißt das, dem Menschen alles nehmen und ihm nichts dafür geben. Man kann sich und anderen nicht genug wiederholen, daß Entsagung und Opfer nicht Ziel, sondern Mittel, nicht das Ende, sondern bloß Durchgangspunkt sind. Für ein notwendiges und großes Ziel läßt sich ein edles Herz gern alle Opfer gefallen. Sich abtöten der Abtötung wegen ist ein ungerechtfertigte und widernatürliche Liebhaberei. Das ist nun die meisterhafte Erziehungs-Kunst des göttlichen Heilandes, daß er immer wieder dieses herrliche Ziel vor das Auge rückt und zu jedem Opfer durch die große Belohnung ermuntert.“Das Reich Gottes“ (Lk. 10,9), „Das Reich des Himmels“ (Mt. 3,2), „das ewige Leben“ (Joh. 6,39), eine unbeschreibliche Seligkeit ist die frohe Botschaft Jesu und der stets wiederholte Kehrreim seiner Lehre. In den acht Seligpreisungen erscheint immer wieder der Himmel in verschiedenen und entsprechenden Bildern (Mt. 5,3-12; 6, 4,6,18). Für alles, für die Hingabe der Hand und des Fußes des Heiles willen (Mt. 18,8ff.), für die Blutzeugenschaft (Mt. 10,32), für die apostolische Nachfolge (Mt. 19,21,28), für die guten Werke (Lk. 14,14), auch für das Kleinste, das Glas Wasser (Mt. 10,24), wird als endgültige Belohnung der Himmel, und als Unterpfand und Vorgeschmack dieses Himmels hienieden schon das hohe Gut des inneren Friedens und des hundertfachen äußeren Entgelts in Aussicht gestellt (Mt. 11,29; 19,29). Der Heiland selbst pflegt, wenn er von seinem Leiden spricht, auch die Auferstehung voraus zu sagen, ein Beweis, daß ihm selbst das Leiden gleichsam undenkbar vorkam ohne die entsprechende Freude, die in der Belohnung liegt. Nicht bloß ad convivendum et commoriendum, sondern auch ad conregnandum cum Christo lautet der ganze Wahlspruch des Christen (vgl. 2. Tim. 2,11 u. 12).
Die Mittel der Aszese
Der dritte Punkt in der Übung der Aszese sind die Mittel und deren Gebrauch. Um die reiche Fülle der Mittel übersichtlich zusammen zu stellen, gehen wir am besten von dem dem Begriff „des geistlichen Lebens“ aus. Leben ist, wie gesagt worden, Bewegung zum Ziel aus innerer Kraft. Das Ziel ist die Vollkommenheit und der Himmel. Die Bewegung zu demselben besteht in guten sittlichen Handlungen, zum Handeln aber bedarf es innerer Kräfte und äußerer Hilfe.
Die inneren Kräfte sind vor allem die Grundfähigkeiten der Seele, der Verstand und der Wille. Damit diese Kräfte aber möglichst vollkommen handeln, sind stehende Hilfskräfte notwendig, und das sind die Tugenden. Die Tugenden sind wirklich ihrer Natur nach nichts anderes als stehende Hilfskräfte, um gut zu handeln. Die guten, sittlichenHandlungen und die Verdienste für das ewige Leben sind die Früchte der Tugenden.
Aus dem Gesagten ist es begreiflich, wie wichtig die Tugenden für die Aszese, für das geistliche Leben sind, ebenso wichtig wie Talent und Geschick im natürlichen Leben. Man kann mit Wahrheit sagen, die Vollkommenheit bestehe in einem vorzüglichen Besitzstand von Tugend. Wir haben zwar gesehen, daß die Liebe eigentlich die Vollkommenheit ausmacht, weil sie den Menschen am vollkommensten mit Gott vereinigt. Die Liebe kann aber ohne die übrigen Tugenden nicht bestehen, sie braucht dieselben notwendig zu ihrem Schutz, zu ihrer Tätigkeit und zu ihrem Schmuck. So sagen die Gottesgelehrten auch ganz richtig, die Vollkommenheit bestehe in der steten Bereitschaft und Schlagfertigkeit, unter allen Umständen tugendlich zu handeln. Die Vollkommenheit ist ja beim Geschöpf nichts anderes als Tauglichkeit zum Ziel; zum Ziel aber werden wir tauglich durch tugendliche Handlungen, sie sind die Schritte zu demselben. –
aus: Moritz Meschler SJ, Gesammelte Kleinere Schriften, 1. Heft: Zum Charakterbild Jesu, 1908, S. 7 – S. 14