Die Gebote der göttlichen Tugenden – Die Liebe
Dritter Artikel
Die Nächstenliebe
§ 2 Werke der Nächstenliebe
Von den verschiedenen Werken der Nächstenliebe kommen hier hauptsächlich in Betracht: das Almosen und die brüderliche Zurechtweisung.
I. Das Almosen
1. In äußerster Not ist man unter schwerer Sünde verpflichtet, den Armen zu helfen auch mit Gütern, die nötig sind, um standesgemäß leben zu können.
Was uns selbst oder anderen, für die wir sorgen müssen, zum Lebensunterhalt notwendig ist, brauchen wir nicht herzugeben.
a) Die Hilfe braucht nicht größer zu sein, als zur Linderung der Notlage erfordert ist.
Ist dem anderen mit dem Darlehen geholfen, so muss man ihm die Sache nicht schenken.
b) Was man zur Rettung seines eigenen Lebens nicht tun müsste, braucht man auch zur Rettung des Nächsten nicht zu tun.
Deshalb muss man einem Armen nicht den Aufenthalt im Süden zur Rettung seines Lebens ermöglichen; ein Arzt muss eine außerordentliche Operation nicht umsonst vornehmen; ebenso braucht man seinen Stand nicht aufzugeben.
2. Bei schwerer Notlage müssen wir den Armen helfen, soweit es geschehen kann, ohne auf Dinge zu verzichten, die zu unserem standesgemäßen Lebensunterhalt notwendig sind. Diese Pflicht ist im allgemeinen eine schwere.
Könnte ein bestimmter Armer in solcher Notlage leicht anderswo Hilfe finden, so bestände keine schwere Pflicht, daß man selbst ihm helfe. Stände aber einem solchen Armen z. B. nur ein einziger Arzt oder ein einziger Advokat zur Verfügung, so hätte dieser die schwere Pflicht, ihm umsonst zu helfen. Wer keinen Überfluss, wohl aber das Ausreichende hat, sündigt läßlich, wenn er zur Abwehr schwerer Not keinen leichten Nachteil auf sich nehmen will.
3. Bei gewöhnlicher Not muss man den Armen im allgemeinen zu Hilfe kommen aus seinem Überfluss und zwar nach der Ansicht mancher Autoren nur unter läßlicher Sünde.
Man muss aber nicht allen diesen Armen helfen, es genügt, wenn man einige unterstützt. Wer jährlich 2 % aus dem Überfluss seines Einkommens zu diesem Zweck verwendet, genügt seine Pflicht. – Läßlich sündigen aber auch wohl diejenigen, die nur das Ausreichende haben, aber nie für die Armen etwas tun.
II. Die brüderliche Zurechtweisung
1. Die schwere Pflicht, den Nächsten von der Sünde oder der nächsten Gefahr der Sünde zu entfernen, besteht, wenn sämtliche folgende Voraussetzungen gegeben sind:
a) der Nächste befindet sich in einer wirklichen seelischen Notlage;
Dieselbe ist vorhanden, wenn die Sünde oder der Wille zu sündigen sicher ist; ferner wenn der andere ohne brüderliche Zurechtweisung sich nicht bessert; endlich wenn kein anderer, der wenigstens gleich geeignet ist, die brüderliche Zurechtweisung vornimmt.
Insofern aus Sünden, die aus unüberwindlicher Unkenntnis begangen werden, kein Schaden entsteht, besteht keines Liebespflicht, jemanden darauf aufmerksam zu machen, z. B. daß Fast- oder Abstinenztag ist. Schadet aber auch schon die materielle Sünde entweder dem Sünder selbst (Sünden gegen das sechste Gebot) oder einem anderen (z. B. Unterlassung der Restitution oder Ärgernis), dann besteht die Liebespflicht, jemanden zu mahnen, auch wenn er sich in unüberwindlicher Unkenntnis befindet. – Aber auch in Fällen, in denen keine Liebespflicht besteht, kann man zu einer Ermahnung unter läßlicher Sünde verpflichtet sein mit Rücksicht auf die Ehre Gottes (z. B. Verhinderung einer Gotteslästerung). Außerdem sind manche wegen ihres Amtes oder aus Pietät verpflichtet, andere zu belehren.
b) die seelische Notlage ist groß;
Diese Notlage ist immer gegeben, sobald es sich um eine schwere Sünde handelt. Ausnahmsweise kann auch die schwere Pflicht bestehen, daß ein Oberer auch gegen geringe Fehler der Untergebenen auftreten muss, wenn z. B. durch dieselben die Ordenszucht geschwächt wird.
c) es besteht die begründete Hoffnung, daß der Nächste sich bessert;
Unbekannten gegenüber besteht daher diese Pflicht gewöhnlich nicht. – Skrupulanten unterlassen besser die brüderliche Zurechtweisung, weil sie dazu ungeeignet sind. – Verschoben kann die brüderliche Zurechtweisung werden, wenn sie später voraussichtlich größeren Nutzen hat.
Ist keine Hoffnung auf Besserung vorhanden, dann muss die brüderliche Zurechtweisung nur dann erteilt werden, wenn aus ihrer Unterlassung Ärgernis entstehen würde.
d) die Zurechtweisung kann geschehen ohne großen eigenen Nachteil.
Wer aus übergroßer Ängstlichkeit die brüderliche Zurechtweisung unterläßt, sündigt gewöhnlich wenigstens nicht schwer. – Bischöfe, Pfarrer usw. Sind aber kraft ihres Amtes, Eltern aus Pietät verpflichtet, eine Zurechtweisung zu erteilen auch unter großem persönlichen Nachteil. – Ebenso müssen Privatpersonen auch unter großem Nachteil die Zurechtweisung vornehmen, wenn durch Unterlassung das Allgemeinwohl geschädigt wird, z. B. wenn ein verdorbener Zögling eine ganze Anstalt verdirbt, oder wenn ein Priester durch Verführung den Gläubigen großen Schaden zufügt.
2. Die Art und Weise der brüderlichen Zurechtweisung. Sie kann geschehen durch Worte, Blicke, manchmal auch schon dadurch, daß man dem Gespräch eine andere Wendung gibt oder dem anderen eine Unterstützung entzieht.
3. Die Ordnung, welche bei der brüderlichen Zurechtweisung eingehalten werden muss, ist folgende: zuerst erteilt man die Zurechtweisung allein, dann zieht man noch den einen oder anderen hinzu; wenn auch dieses nichts nützt, meldet man die Sache dem Obern.
Sofortige Anzeige ist gestattet, wenn der Fehler öffentlich ist oder bald öffentlich wird; wenn das Allgemeinwohl oder das Wohl eines anderen sofortige Anzeige verlangt; wenn jemand nur mit großem Nachteil einen anderen persönlich zurechtweisen könnte; wenn eine geheime Mahnung voraussichtlich nichts nützt. Da in Kommunitäten (Konvikten, Seminaren usw.) gewöhnlich einer dieser Umstände vorhanden ist, so kann die Sache gewöhnlich sofort dem Obern gemeldet werden. –
aus: Heribert Jone OMCap, Katholische Moraltheologie, 1931, S. 108 – S. 112