Verschiedene Arten, die Liebe des Mitleids zu üben
1) Wir sollten bei unsern Betrachtungen einzusehen suchen, wie Gott von seinen Geschöpfen bedient und verherrlicht werden muss. Wir sollten uns seine unendlichen Vollkommenheiten und Eigenschaften vorstellen, seine Schönheit und Liebenswürdigkeit. Wir sollten uns den vollkommenen Gehorsam vor Augen stellen, womit sein Wille im Himmel geschieht, und versuchen, uns mit den inneren Gesinnungen des heiligsten Herzens Jesu, des unbefleckten Herzens Maria`s und aller Heiligen und englischen Chöre zu vereinigen. Wir sollten die Wohltaten und Segnungen aufzählen, die Er in seiner unendlichen Liebe seinen Geschöpfen verliehen hat, und besonders über die vier großen Wunder der Gnade nachdenken: über die Schöpfung, die Menschwerdung, die heilige Eucharistie und die beseligende Anschauung der göttlichen Majestät.
Wenn wir dann dies unserm Geist wohl eingeprägt haben, so werden wir sehen, was die Sünde wirklich ist, wie furchtbar es ist, eine so große Majestät zu beleidigen, und wie unaussprechlich niederträchtig, ein so liebevolles Herz zu verwunden. Wir werden dann kaum das Haus verlassen und unseren weltlichen Geschäften nachgehen können, ohne für diesen Kummer über die Sünde Nahrung zu finden. Bei jedem Tritt werden wir uns aufgefordert fühlen, einen Akt der Genugtuung für die beleidigte Ehre Gottes zu verrichten. Die Größe der Gottvergessenheit, die in der Welt herrscht, wird uns täglich mehr mit Erstaunen erfüllen.
Anstatt uns an ein solches Schauspiel zu gewöhnen, wird in dem Maße, als die Idee der Schönheit und Liebe Gottes in uns zunimmt, der Hass der Sünde sich gleichmäßig mit einer täglichen neuen Stärke entwickeln. Die gewöhnliche Art, wie die Menschen Gott, seine Rechte, seine Ansprüche und Interessen verkennen, wird uns fast hässlicher vorkommen, als offene Handlungen der Sünde. Das Leben wird uns eine Last werden, und die Welt wird uns als ein fremder, unheimlicher Ort erscheinen, und eine heilige Trauer wird über uns kommen, die keine Ruhe findet, als in dem süßen tröstlichen Gedanken an Gott.
2) Eine andere Art, diesen Schmerz über die Sünde zu üben, wird von dem heiligen Bernhard in seiner Schrift an den Papst Eugen erwähnt (De consid. 2, 6):
„Betrachte die Welt mit den Augen des Geistes und sieh die Felder an. Sind sie nicht vielmehr dürr zum Verbrennen, als reif zur Ernte? Wie vieles sieht hier einer Frucht gleich, und doch sind es bei näherer Ansicht nur wilde Schößlinge, ja nicht einmal dies, sondern alte, knorrige Bäume, die nur Eicheln tragen, wie die Schweine sie fressen.“
Nehmt die Karte der Welt, und seht zuerst Asien an, wo unser Herr geboren wurde und gelitten hat! Betrachtet die Türkei, Persien, die Tartarei, China, Japan und das unermessliche Indien; wie wenige Christen finden sich auf dieser ganzen Länderstrecke! Der Götzendienst unter tausend hässlichen Gestalten, die falsche Religion Muhameds, Sekten, welche den Namen Christi tragen, und ihn durch Schisma und Irrglauben verleugnen – dies sind die Kulte, welche über diese herrlichen Länder ihre Herrschaft ausdehnen, und nur hie und da findet man einen Menschen, welcher den heiligen Namen Jesu anruft und sein kostbares Blut verehrt. Und doch wurde hier der Mensch geschaffen und das irdische Paradies gepflanzt; hier war die Heimat des auserwählten Volkes; hier lehrte und litt der Sohn Gottes; hier predigten die Apostel und Athanasius, Basilius, Gregorius und Chrysostomus hielten hier den Glauben aufrecht, und warfen den Irrglauben nieder. In Japan und China ist der Boden noch mit dem Blut der Märtyrer unseres Herrn befeuchtet; aber wie gering ist hier die Ernte für seinen Ruhm!
Werft einen Blick auf die Nordküste Afrika`s, wo einst über vierhundert Bischöfe ihre Throne hatten, und blickt dann auf die unermesslichen Länder der Mohren, der Hottentoten und Kaffern. Wie viele Stunden Landes bescheint die Sonne, wo niemand Jesus anruft, oder sein heiliges Kreuz kennt! Amerika ist glücklicher und auch Australien; denn Dank den Spaniern und den Irländern herrscht hier die Kenntnis der heiligen Schrift; aber wie viele Stämme sind noch unbekehrt, und wie viele Millionen Irrgläubige tragen den christlichen Namen umsonst! Seht ferner, wie der Irrglaube sich in die schönen Gefilde Europa`s eingefressen hat! Russland, Schweden, Dänemark, Deutschland, Schottland, England sind alle mehr oder weniger die Beute desselben, und unzählige Scharen von Menschen stürzen täglich ins Verderben, während sie das wahre Wort Gottes hören und die heiligen Sakramente erlangen könnten.
Dies war das Gemälde, welches der heilige Laurentius Justiniani betrachtete, als er seine Abhandlung über die Klage der christlichen Vollkommenheit schrieb. Dies Bild hatte Gott selbst im Auge, als Er sich so bitterlich gegen die heilige Katharina von Siena beklagte, daß Priester und Prälaten sich um seinen Ruhm nichts kümmern, und in ihrer Trägheit und Selbstsucht seine teuren Interessen mit Füßen treten. Was für ein Feld öffnet sich hier für Akte der Liebe! Gedenkt des Tages, da der mitleidsvolle Schöpfer auf seine wundervolle Schöpfung herabsah, wie sie jungfräulich und unbefleckt vor Ihm lag, und sie segnete, weil alles so gut war. Gedenkt des Tages, da Jesus, um jenes erste Glück zurück zu bringen, oder vielmehr, um uns ein neues und besseres zu schenken, auf dem Kalvarienberg am Kreuz hing. Und dies ist die Frucht davon, so lohnt der Sünder Gott dafür!
Wenn unsere Gedanken umher schweifen, und unsere Augen auf den mannigfaltigen Provinzen der Muhamedaner, der Heiden und Irrgläubigen ruhen, fühlen wir uns nicht hingezogen, Gott alle Akte der Anbetung darzubringen, welche die Engel diesen Tag im Himmel darbrachten, um die Ehre zu ersetzen, welche diese armen Auswürflinge Ihm nicht erwiesen haben? Ein anderes Mal können wir zu den Verdiensten Jesu Christi selbst, zu den heldenmütigen Tugenden seiner allerseligsten Mutter, zu den Aposteln, Märtyrern, Jungfrauen. Kirchenlehrern und Bekennern unsere Zuflucht nehmen, um durch eine fromme Meinung, durch einen Liebesakt die Ehre zu ersetzen, welche die göttliche Majestät von allen diesen Stämmen und Völkern empfangen sollte.
3) Eine weitere Übung wird von dem P. Balthasar Alvarez, dem Beichtvater der heiligen Theresia angeführt. Wir sollen nämlich im Geist die Welt durchreisen, und die vielen Kirchen und Tabernakel besuchen, wo das Allerheiligste aufbewahrt wird, und wohin so wenige kommen, um den Gegenstand unserer Liebe zu betrachten. Die Straßen, sagt er, sind voll, aber die Kirchen sind leer. Scharen von Menschen sind eifrig auf ihre eigenen Interessen bedacht, und so wenige kommen, um mit Jesus an den seinigen Teil zu nehmen. Auch der heilige Alphonsus erinnert uns mit seiner gewöhnlichen geistvollen Milde, wie viele Kirchen es gibt, wo Jesus sich in Schmutz, Unreinlichkeit und Vernachlässigung aufhalten muss, und wo von Woche zu Woche niemand hinkommt, Ihn zu besuchen.
Mit was für kindlichen Akten der Liebe, die immer abwechseln, und doch stets gleich zärtlich sind, können wir unser Herz in allen diesen verlassenen Kirchen vor Ihm ausschütten! Können wir nicht an Jesus denken, der so verlassen ist, bis unser Herz erglüht und uns die Tränen in die Augen strömen? O wie angenehm ist Ihm dies kleine Opfer herzinnigen Schmerzes! Er liebt es, daß man an Ihn denkt, wie alle Liebenden, und nichts ist gering ins einen Augen, was aus Liebe zu Ihm geschieht; denn seine Liebe verwandelt und vergrößert es alles.
Ich will damit nicht sagen, daß ihr ohnmächtig werden sollt schon bei dem Namen Sünde, wie es bei Heiligen der Fall war; solche Dinge erfordern eine besondere Gnade und einen hohen Grad der Liebe. Aber etwas weniges könnt ihr tun, um die Sünden der Welt wieder gut zu machen, und den Schmerz zu bezeugen, den ihr darüber fühlt; und aus diesem Opfer, so gering es auch sein mag, wird Gott große Ehren ziehen, und unser Herz süßen Trost schöpfen. –
aus: Frederick W. Faber, Alles für Jesus oder die leichten Wege zur Liebe Gottes, 1913, S. 132 – S. 137