Heiligkeit der seligsten Jungfrau Maria

Zwei himmlische Wesen mit Flügeln, das eine mit Palmzweigen in den Händen, das andere läßt aus dem Gewand Rosen nieder fallen

Die Andacht zur seligsten Jungfrau Maria

Erstes Hauptstück

Dritter Beweggrund zur andächtigen Verehrung der seligsten Jungfrau

Maria als Himmelskönigin steht auf einer Wolke, eine Krone auf ihrem Haupt, eine Lilie in der Hand, die Hände über der Brust gekreuzt, hinter ihr eine helle Lichtkuppel wie im Petersdom

Die Heiligkeit der seligsten Jungfrau Maria

Der Name mild und stark würde der göttlichen Vorsehung, welche doch dieser Eigenschaften selbst sich rühmt, wohl kaum gebühren, wenn sie zu den Zwecken, die sie mit großer Stärke verfolgt, nicht auch mit eben so großer Milde die geeigneten Mittel auszuwählen wüßte. Da nun Gott will, daß seine Mutter unter allen seinen Geschöpfen das geliebteste und geehrteste sei, so muss er sie auch der größten Liebe und Ehre am würdigsten machen. (s. Weish. 8, 1)

Mit dieser hellen Leuchte in der Hand will ich euch zu der unergründlichen Tiefe der Heiligkeit Mariens führen, in welche ich euch jetzt hinab geleiten muss, damit ihr sicher darin wandelt, ohne Gefahr, euch zu verlieren, obwohl auch ihr jenen Überzeugungen nahe kommen werdet, mit welchen die Heiligen einmütig von der Gottesmutter sprechen, – Überzeugungen, welche auf den ersten Blick allerdings jähen Abstürzen ähnlich sehen mögen – so irrig oder übertrieben können sie euch erscheinen.

Drei Umstände bezeugen uns klar die Fülle der Gnade in Maria, einer Gnade, welche wohl auf andere Heilige tropfenweise sich nieder senken konnte: „Wie Güsse träufeln auf die Erde“ (Ps. 71, 6), auf die seligste Jungfrau aber ganz ohne Rückhalt nieder strömte: „Wie Regen auf das Vließ“ (Ps. 71, 6), – so überschwänglich kam dieselbe auf sie herab.

Diese drei Umstände sind: der Zweck oder das Ziel dieser Gnade, die Quelle derselben und die Mitwirkung, welche die seligste Jungfrau eben dieser Gnade leistete. Es heißt ja gerade deshalb von Maria, daß sie wie ein Vließ die Gnade ganz in sich einsog, weil sie dieselbe niemals unverrichteter Dinge an sich abgleiten ließ, wie dies bei der Erde stets viel leichter der Fall ist.

Die Fülle der Gnade in Maria

2. Für`s erste ersieht man die Fülle der Gnade in Maria aus dem Zwecke derselben.
Der Herr liebt es, seine Gaben je nach dem Verhältnisse der Pflichten auszuteilen, die er jemand auferlegt.

Erinnert euch nun in Kürze alles dessen, was wir in dem vorhergehenden Hauptstücke über die Größe und Erhabenheit gesprochen haben, welche in der wunderbar hehren Würde der Gottesmutter liegt: erinnert euch, daß sie in der Ordnung der Dinge einen Rang einnimmt, welcher über alles bloß Geschaffene weit hinausragt, daß sie in den Bereich der hypostatischen Vereinigung in geheimnisvoller Weise eintritt und, wie der heilige Thomas sagt, „durch ihren eigentümlichen Beruf als Mutter den Grenzen der Gottheit am nächsten kommt“; und ihr werdet euch sogleich überzeugen, daß jedes Urteil, welches man sich über die Gnadenfülle der seligsten Jungfrau bildet, und sei es auch noch so hoch, stets weit hinter der Wahrheit zurückbleibt, weil es auch allezeit eben so weit hinter dem unendlich erhabenen Berufe zurücksteht, der ihr auferlegt worden ist.

Erwäget ferner, daß die gnadenverleihende Vorsehung bei der Heiligkeit, welche sie der Gottesmutter mitteilte, zwei Rücksichten zu nehmen hatte: die eine auf uns und die andere auf Christus; denn zur nämlichen Zeit bestimmte sie Maria sowohl Christus dem Heiland als uns Menschen zur Mutter.

So musste sie als wahre Mutter der Lebendigen, das Verderben wieder heilend, welches Eva, die vielmehr eine Mutter der Toten war, angerichtet hatte, eine Art von Vorrang erhalten, vermöge dessen sie das Haupt als der Ihrigen wurde, – einen Vorrang, ähnlich demjenigen, dessen Christus sich erfreut. Wie daher die Gnade, welche Christus als Mensch besaß – ich meine die ihm als Haupt der Erlösten eigentümliche Gnade – zwar nicht unendlich war (denn eine solche kann nicht verliehen werden), wohl aber unaussprechlich groß sein musste; so konnte auch die der seligsten Jungfrau gewährte Gnade nicht anders als unaussprechlich groß sein.

Als Mutter der Auserwählten hat sie, wie schon bemerkt, auch gewissermaßen Teil an dem Range und an der Würde eines Hauptes derselben. Es war demnach ganz geziemend, daß Gott sie in einem Verhältnis, welches dieser Würde entsprach, mit seiner Gnade bereicherte; und wie er bei der Bildung des Meeres den Willen hatte, daß in dasselbe alle Flüsse sich vereinigen sollten: „Es sollen sich sammeln die Wasser an einem Ort“ (Gen. 1, 9), so vereinigte er auch, als er Maria schuf, in Einem Herzen alle Gnadengaben, welche sonst unter den übrigen Menschen verteilt sich finden; und wie das Meer nicht überfließt (Ekkl. 1, 7), so strömt auch Mariens Herz bei aller Gnadenfülle nicht über, weil jene Gnaden insgesamt ihr weites Bett – den großen Beruf, welcher ihr geworden ist – nicht übersteigen.

Maria war Christus höchst ähnlich

Was dann für`s Zweite Christus anbelangt, so gebührte es sich unstreitig, daß seine Mutter ihm in allem höchst ähnlich war und ihm überall zunächst stand, so weit das Wesen eines bloßen Geschöpfes, das stets an und für sich beschränkt ist, dies nur immer gestattet.

Die Mütter sind gewissermaßen die belebten Formen ihrer Kinder, und wie es daher nur selten vorkommt, daß die Kinder ihnen nicht in den Gesichtszügen gleichen, so tritt der Fall noch seltener ein, daß dieselben in Sitte und Wandel nicht nahezu eins mit den Müttern werden.

Nehmet an, daß die seligste Jungfrau nicht auserwählt worden wäre, um Jesus zu gebären, sondern bloß, um mit ihrer Milch ihn zu nähren, – wie viele Rücksichten hätten nichts desto weniger bei einer solchen Wahl beobachtet werden müssen!

Ich wiederhole deshalb: wenn die seligste Jungfrau den Sohn Gottes auch nur einmal an ihre Brust hätte drücken müssen, um ihn, nicht als Mutter, sondern als gewöhnliche Amme mit ihrer Milch zu nähren, so hätte es sich doch gebührt, daß die göttliche Vorsehung mit größter Sorgfalt bei ihrer Schöpfung zu Werke gegangen wäre. Um wie viel mehr wird also dies der Fall sein, da sie allein den ersten Stoff zur Bildung jenes heiligsten Leibes und die erste Nahrung dem göttlichen Kinde bieten musste, indem sie es nicht einmal, sondern viele hundertmal an ihrer gesegneten Brust trinken ließ!

Entgegnet mir auch nicht, es sei eine eitle Furcht, daß etwa minder gute Sitten der Mutter in die Heiligkeit Jesu Christi, die keiner Verletzung unterworfen war, sich störend hätte eindrängen können. Denn diese Unverletzlichkeit ist nur ein besonderer Ausnahmefall; wer wüßte aber nicht, daß man bei jeder Tat auf das schauen müsse, was die Natur der Dinge an und für sich mit sich bringt?

Auch das Blei kann niemals selbst nur das kleinste Teilchen seines schlechten Metallstoffes in einen Diamanten übertragen. Und doch – welcher Künstler hat je einen Diamanten in Blei gefaßt? Hättet ihr den Auftrag, jene wundervolle Perle, welche einst dem Könige Philipp III. von Spanien als unvergleichlich schöner Schwertknopf diente, in ein Geschmeide zu fügen, würdet ihr dann zu einem solchen Einsatz nicht den kostbarsten Schmelz wählen, der sich finden ließe? Gewiß, denn wenn auch eine so erstaunlich große Perle an und für sich schon wertvoll genug ist, so macht sie nicht desto weniger der Emaille und diese ihr hohe Ehre.

So musste auch zwischen Christus und seiner Mutter ein gewisses Verhältnis, wenn nicht gleicher, so doch ähnlicher Heiligkeit bestehen, und er, als kostbare Perle sondergleichen, ehrt demnach die Mutter, und die Mutter, als prachtvolle Emaille, um so herrlicher, je glanzreicher sie ist, ehrt hinwieder den Sohn, obwohl derselbe dieser Ehre Ehre nicht bedarf: „Der Kinder Ruhm sind ihre Väter“ (Prov. 17,6).

Die Liebe Christi zu Maria

Die zweite Ursache der Gnadenfülle in der Gottesmutter liegt in der Quelle, von welcher diese ausgeht: in der Liebe nämlich, welche Christus gegen die seligste Jungfrau trägt, – eine Liebe, welcher die Heiligkeit des geliebten Gegenstandes vollkommen entspricht. Denn bei Gott war jemanden wohl wollen und diesem das Gewollte mitteilen, stets ein und dasselbe.

Der Bach, der so eilig dahin rauscht – hätte er Verstand, o wie oft würde er mitten in seinem Laufe sich zurückkehren und die Quelle begrüßen, deren unversiegliche Ader ihn unaufhörlich mit neuem Silber bereichert! Und auch das Licht, das schöne Kind einer noch viel schöneren Mutter – hätte es Verstand, um seinen Ursprung zu erkennen, wie sollte es nicht zur Bezeigung seiner gerechten Dankbarkeit immer wieder alle seine glänzenden Strahlen zu ihr zurückwenden?

Wenn nun diese Verpflichtung in allen Wirkungen so groß ist, so muss sie in denjenigen, welche ein edleres Sein empfangen, noch viel größer sein. Deshalb hat die Pflicht eines Sohnes keine Grenzen, weil er niemals genugsam danken kann. „Gott und den Eltern“, sagt der große Philosoph, dem der heilige Thomas hierin beipflichtet, „Gott und den Eltern können wir niemals nach Gebühr unseren Dank bezeigen.“ Gott und den Eltern kann man auf Erden nie eine angemessene Vergeltung erweisen, – so groß ist die Schuld, welche jeder Mensch gegen diejenigen hat, die ihm sein menschliches Sein gegeben haben.

Dieses allgemeine Band nun, welches jedes Kind so fest und enge umschlingt, musste, wie mir scheint, aus zwei Gründen noch eine ganz besondere Kraft haben, um Christus desto stärker zu verpflichten.

Für`s Erste war die Pflicht bei Christus nicht zwischen Vater und Mutter geteilt, wie bei allen übrigen Menschen, welche vom Weibe zwar, aber aus dem Manne, empfangen, hierin den Blumen im Garten gleichen, da diese auch einen Teil ihres Daseins der mütterlichen Erde verdanken, welche sie hervorbrachte, den anderen Teil dem Manne, der die Erde bebaute. Christus aber war keine Garten-, sondern eine Feldblume (Cantic. 2,1), wie das prophetische Bild sagt, und als solche ist er aus Maria der Jungfrau einer unberührten und unversehrten Erde, ohne irgend eines Mannes Werk, empfangen und verdankt ihr allein sein Dasein hier unter uns.
In diesem Sinne konnte er sie deshalb auch ganz mit Recht so oft seine Einzige nennen. (ebd. 6,8)

Für`s Zweite gab Maria ihrem Sohne, Christus dem Herrn, nicht bloß das höchste aller Güter, das Dasein nämlich, sondern sie gab ihm dasselbe auch in der besten Weise, in welcher es gegeben werden kann, nämlich aus Liebe.
Sie empfing ihren großen Sohn nicht, ohne ihn vorher zu kennen, zu lieben, zu bevorzugen. Ihm allein öffnete diese wunderbare Muschel wie einem himmlischen Tau ihren jungfräulichen Schoß, der durch das vollkommenste Gelübde einem ganzen Meer, der ganzen übrigen Menge von möglichen Geschöpfen, verschlossen war.

Dies war für Christus so wertvoll, daß er, damit sie ja nicht wie andere gewöhnliche Mütter zu ihm sagen könnte: „Ich weiß nicht, wie du in meinem Schoß erschienen bist“ (2. Mach. 8,22), in diesen heiligen Raum nicht eintreten wollte, ohne vorher eine ausdrückliche Einwilligung von ihr erhalten zu haben: „Er wollte aus ihr nicht Fleisch annehmen, wenn sie nicht selbst es ihm gewährt hätte“ (Gulielm. in Cantic.); er wollte auf diese Weise sich selbst viel mehr dem Herzen, als dem Schoß seiner Mutter zu verdanken haben, dessen wahre Frucht er doch war.

Die Dankesschuld Christi gegenüber Maria

Und wenn ich hier offen von einer Schuld spreche, welche Christus gegen Maria hatte, so nehme ich dieses Wort in der strengsten Bedeutung, in der es gebraucht werden kann. Denn darin besteht ja der eigentümlichste Vorzug der seligsten Jungfrau, daß sie allein unter allen Geschöpfen die Gläubigerin Gottes ist. „Den Gläubiger aller“, sagt der heilige Methodius, „hat sie zu ihrem Schuldner.“

Auch den anderen Heiligen gegenüber macht sich Gott zum Schuldner; dies ist ganz richtig; aber in welcher Weise? Durch sein Versprechen: „Nicht durch Nehmen, sondern durch Versprechen macht er sich zum Schuldner“, wie der heilige Augustinus so schön bemerkt.

Der seligsten Jungfrau gegenüber machte er sich aber zum Schuldner, indem er von ihr das menschliche Dasein empfing; und darum ist sie allein es, an welche der Apostel nicht ungescheut die Frage stellen dürfte: „Wer gab ihm etwas zuvor, daß es ihm vergolten werden müsste?“ (Röm. 11, 35) Denn wenn der Apostel die seligste Jungfrau so fragen würde, so müsste sie antworten: „Ich habe ihm, vor jedem menschlichen Willen von seiner Seite, das natürliche Sein gegeben, dessen er sich erfreut, indem ich ihn zum Menschen machte; ja ich habe es ihm nicht bloß gegeben, sondern sogar vor der Zeit mitgeteilt, indem ich durch mein Flehen seine Ankunft auf dieser Welt beschleunigte.“

Haltet nun ein wenig inne, nachdem ihr diese Stelle gelesen, und erkläret mir, wenn ihr es vermöget, worin die Zeichen der Dankbarkeit und Anerkennung bestanden haben müssen, welche ein solcher Sohn einer solchen Mutter erwies.

Er, der für einen Becher voll Wasser, den man ihm auf Erden reicht, dort über den Sternen einen Strom von Lust und zwar einen ewigen Strom von Lust als Belohnung verheißt, – welch ein Meer von Gnaden wird er auf jene ausgegossen haben, welche ihm sogar das Blut ihrer Adern gab, indem sie es in sein heiligstes Fleisch umwandelte, da sie ihn als zartes Kindlein empfing, und dasselbe Blut ihm später als Milch zu trinken reichte, da sie ihn säugte und nährte!

Wenn Jesus Christus sogar dem, der ihm das Leben raubte – was der undankbare Mensch getan – sich selbst gab; was wird der derjenigen gewährt haben, die ihm sein Leben gab?

Ja fürwahr, dies sind Erkenntnisse, welche eine menschliche Zunge nimmer auszusprechen vermag: „Wie groß die unaussprechliche Gnade der Heiligkeit im Leibe der seligsten Jungfrau war, ist dem allein bekannt, der aus ihrer Natur seine Natur empfing“, sagt der heilige Augustinus. Die Größe jener Morgengabe, welche das göttliche Wort mit sich brachte, als es sich mit Maria vermählte, ist bloß dem allein bekannt, der diese Mitgift gab.

Hieran läßt sich nicht zweifeln. Es war dies die einzige Gelegenheit, bei welcher Gott einmal die schöne Tugend der Dankbarkeit ausüben konnte. Es war demnach geziemend, daß er sie auch seiner würdig übte und seinen allmächtigen Arm hierzu aufbot. Denn es handelte sich darum, eine so überschwängliche Schuld abzutragen, daß, wenn der Gott, welcher Sohn der Jungfrau Maria wurde, nicht wie wahrer Mensch, so auch wahrer Gott gewesen wäre, er in seinem ganzen Schatz niemals eine hinreichende Summe gefunden hätte, um jener Schuld vollständig zu genügen.

Die Menschen erkennen unter sich diese Dankespflicht, obwohl sie so sehr von der Gerechtigkeit geboten ist, niemals in ihrer vollen Größe an, weil sie in ihrer Umgebung keine Beispiele einer vollendeten Erfüllung derselben zu sehen pflegen.

Gewöhnlich lieben die Eltern ihre Kinder viel mehr, als sie von diesen geliebt werden; und die Liebe, obwohl ein Feuer, bewahrt hier die Natur des Feuers nicht, weil ihre Flamme abwärts brennt. Aber die Liebe, welche Christus zu seiner Mutter trug, unterlag, weil unendlich rein, wie ein Feuer in seiner Sphäre, nicht den unedlen Eigenschaften, welche von unserm Stoffe sich an dasselbe zu heften pflegen; und daher liebt Christus – im Gegensatz mit den anderen Menschenkindern – ohne Vergleich viel inniger, als er geliebt wird, und wollte in der ihm geziemenden Weise seine Mutter mit jener Fülle der Heiligkeit begabt sich bilden, wie eine größere nach Gott nicht gedacht werden kann; denn er hatte Weisheit und Macht, um sie so zu bilden, wie er sie wollte.

Maria ist Gottes würdiges Haus

Ich weiß, daß Er nicht so von sich sprach, wo er in der heiligen Schrift die Worte niederlegte: „Die Weisheit hat sich ein Haus gebaut.“ (Prov. 9, 1) Habet ihr den Sinn wohl erwogen? Gottes Sohn nahm nicht ein beliebiges Haus, wie man zu sagen pflegt, zur Miete, um darin zu wohnen: er berief nicht ein gewöhnliches Weib in seinen Dienst, damit sie ihm Mutter würde; sondern er machte sich jenes Haus selbst, und zwar nicht in was immer für einer Weise, sondern er baute es; das heißt, er machte es nicht, wie alle übrigen geschaffenen Dinge, ohne gleichsam über das nachzudenken, was er machte: „Er sprach und die Dinge wurden“ (Ps. 32, 9); sondern er machte es nach einem wohl überlegten Plan, mit aller Sorgfalt, mit aller Kunst, nach sicherem Maße: er baute es und baute es sich.

Er baute es nicht, um es an jemand andern zu vermieten, sondern einzig und allein für sich; das heißt, er baute es, damit es ein Gottes würdiges Haus sei.
Ich sage ein Haus. Denn er baute es nicht, um sich desselben als eines Tempels zu bedienen, wo er als Gott mit Majestät thronen wollte; sondern er baute es als Haus, um darin seine trauliche Wohnung zu nehmen, um seine Ruhe, sein stilles Glück darin zu finden. „Die Weisheit hat sich ein Haus gebaut.“

Und wenn dem so ist, wird sie nicht darauf bedacht gewesen sein, es mit allen jenen Vollkommenheiten, Vorzügen und Eigenschaften auszustatten, welche es ihr lieber und werter machen konnten?

Schließen wir also unsere Betrachtung über diesen Gegenstand folgendermaßen. Wer die ganze Menge der herrlichen Schätze kennen lernen will, welche Christus in Marias Schoß niederlegte, der suche sich die einzelnen Teile mittelst nachstehender Übersicht zusammen zu stellen: Ein Gott, der einer Mutter seine Gaben spendet; der sie ihr spendet, um der großen Liebe nachzukommen, welche er zu ihr trägt; und der sie ihr spendet, um die größte und einzige Schuld abzutragen, in welche er jemals seinen Geschöpfen gegenüber geraten konnte.

Ich weiß, daß der König Salomon, der so reich war, nicht arm wurde, als bis er zu lieben begann. Aber von dir, großer König der Herrlichkeit! – was soll ich da sagen? Ich kann nicht sagen, daß du irgendwie arm wurdest, indem du jene Verbindlichkeiten erfülltest, welche dich an eine so unendlich geliebte Seele wie Maria ist, ketteten; wohl aber sage ich, daß, wenn du nicht arm wurdest, der Grund hiervon wahrlich nicht in der Kargheit der Gaben lag, welche du ihr spendetest, sondern in deiner unendlichen Größe, vermöge welcher du sowohl in der Weisheit, als im Reichtumsbesitz hoch über Salomon stehst: „Seht, mehr als Salomon ist hier“ (Matth. 12,42). Aber was Wunder, wenn du niemals arm wirst, da ja die Schätze, welche aus deiner Hand fließen, keine Spenden aus der Schatzkammer sind, wie Salomons Ausgaben, sondern Erzeugnisse eines Goldschachtes, und zwar einer Grube, die unerschöpflich ist!

Maria die Gnadenreiche

Werfen wir jetzt den dritten Blick von Babylon aus, wo wir noch in der Verbannung seufzen, auf die Heiligkeit unseres Jerusalem, indem wir den Eifer ins Auge fassen, mit welchem die seligste Jungfrau ihrerseits sich befleißigte, aus der ihr verliehenen Gnade Nutzen zu ziehen, damit auch wir sie dann preisen und ausrufen: „Viele Töchter haben Reichtum gesammelt, du hast alle übertroffen.“ (Prov. 31, 29)

Um aber die Größe dieses Gewinnes zu erkennen, ist es notwendig, zuvor den Bestand des ersten Kapitals zu betrachten, auf welchem der reiche Wucher beruhte.

Ich halte es für ganz ausgemacht daß die seligste Jungfrau im ersten Augenblicke ihrer Empfängnis mehr Gnade besaß, als nicht bloß irgend ein Heiliger auf Erden, sondern auch irgend eine Seraph im Himmel im letzten Augenblick seines Erwerbes inne hatte.

Man kann dies nicht in Abrede stellen, ohne der Gottesmutter ein offenbares Unrecht zu tun, weil sowohl alle Männer der heiligen Wissenschaft hierin einer Meinung sind, als auch weil die heilige Schrift selbst deutlich uns zum Glauben an diese Wahrheit einzuladen scheint, indem der Psalmist sagt: „Seine Grundfesten sind auf den heiligen Bergen; es liebt der Herr Sions Pforten mehr als alle Zelte Jakobs.“ (Ps. 86, 1,2) Schauet, wie hoch jene wunderbar erhabenen Geister emporragen, welche wir gleich gewaltigen Bergen anstaunen! Auf ihren Spitzen steht der Grund des herrlichen Baues der seligsten Jungfrau Maria. Sie fängt da an, wo die anderen alle aufhören. Und der Herr liebt viel mehr die Pforten, das heißt, die Anfänge jenes überaus hohen Bauwerkes von Sion, als alle schon vollendeten Gezelte Jakobs.

Staunt ihr über diesen Satz, so benimmt der Herr selbst euch alles Staunen durch eine noch wunderbarere Erscheinung, indem er euch sagt, daß alles dieses seinen Grund einzig darin hat, daß Er in Maria`s Schoß Mensch geworden: „Der Mensch, der Gottmensch nämlich, ist in ihm geboren“ (Ps. 86, 5); und daher gebührte es sich wohl, daß er Sion mit all der Pracht baute, die einem Könige, wie Er, sich geziemt: „Selber hat es gegründet der Allerhöchste.“ (3. Kg. 5, 17)

Gnadenunterschiede bei den Engeln

Es ist unzweifelhaft, daß die Zahl der Engel so sehr allen Glauben übersteigt, daß unsere Arithmetik keine Ziffern hat, um sie berechnen zu können: „Ist eine Zahl wohl seiner Heeresscharen?“ (Job 25, 3)

O wie sehr würdet ihr euch täuschen, wenn ihr meint, daß ihr jene himmlischen Streiter Mann für Mann gleichsam zur Heerschau in euren kleinen Geist herabrufen könntet! Der große Dionysius, der bekanntlich von dem heiligen Apostel Paulus selbst unterrichtet wurde und daher von ihm, der ja Augenzeuge gewesen, dies sehr wohl wissen konnte, schreibt, daß nicht bloß die einzelnen Streiter, sondern sogar die Scharen jener seligen Geister, welche in den verschiedenen Rangstufen sich finden, ihrer Zahl nach für unsere irdische Erkenntnis vollkommen unerfaßlich sind: „Die seligen Heerscharen und höheren Geister übersteigen das Maß unserer schwachen Erkenntniskräfte.“

Diese Worte, von dem heiligen Thomas wohl erwogen, veranlaßten diesen großen Kirchenlehrer zu der Behauptung, daß die englischen Wesen alle körperlichen Dinge an Menge so sehr übertreffen, als unter den körperlichen Dingen selbst die höheren, die Himmel nämlich, an Größe und Umfang die niederen übersteigen. Es ist dies ein Mehrheitsverhältnis, das über alle Berechnung hinausgeht.

Nach dieser Voraussetzung muss man also annehmen, daß die Engel zahlreicher sind als alle Sterne am Himmel, als alle Sandkörnchen im Meere, als alle Atome in der Luft. Obwohl indessen ihre Zahl so groß ist, bilden sie doch nicht eine wirre Masse wie die Sandkörner und die Atome; sondern mit ihrer Menge verbindet sich die schönste Ordnung, vermöge welcher immer jeder stufenweise über den andern sich erhebt, gleichwie (bemerkt der englische Lehrer weiter) bei den Zahlen zwei höher steht als eins, drei höher als zwei, vier höher als drei und so fort und fort, eine Ziffer die andere durch ein größeres Mehr übertrifft.

Überdies entsprechen den Gaben ihrer Natur auch jene, welche sie durch Gnade erhalten haben, so daß wir diejenigen von den Engeln, welche in der natürlichen Ordnung mit mehr Vollkommenheit begabt sind, auch in der übernatürlichen Ordnung mit einer größeren Gnade bereichert sehen.

Aber wozu diese ganze Darlegung? werdet ihr fragen.

Wenn die Engel, wie oben dargelegt wurde, ohne Zahl sind, wenn ein Engel stets vollkommener als der andere seiner Natur nach ist, und wenn, je mehr einer den andern der Natur nach an Vollkommenheit übertrifft, desto reicher auch verhältnismäßig die ihm zugewendete Gnadenmenge erscheint, so folgt daraus, daß, so klein ihr auch den Grad der Gnade in dem untersten Engel voraussetzen wollet, demselben in dem höchsten Engel doch eine unglaubliche Größe entsprechen muss.

Der heilige Michael, welcher der allgemeinsten Meinung nach der Fürst aller Engel, das Haupt der Seraphim ist, muss demnach wenigstens so viele Grade der Gnade besitzen, als es Engel gibt, welche ihrer Natur nach unter ihm stehen, – also unzählige.

Nehmet ihr aber an, daß jener Niederste unter den Engeln, von dem wir eben sprachen, nicht bloß mit einem einzigen Grade der Gnade, sondern mit vielen tausenden begabt ist (wie man in Anbetracht der Vollkommenheit jeder englischen Natur wirklich zugestehen muss), sehet ihr dann nicht, wie sehr sofort der Gnadenreichtum jenes obersten Engels wächst, welcher der Führer der ganzen erhabenen Heerschar ist? Gleichwie, wenn die Astronomen ihre Grade verzeichnen, derselbe Grad, welcher auf unserer Erdkugel im größten Kreise keinen weiteren Raum als sechzig Meilen Landes einnimmt, auf den größten Kreis dort oben am höchsten Himmel übertragen einen so gewaltigen Raum faßt, daß er jede Vorstellungskraft übersteigt.

Die unermeßliche Gnadenfülle Mariens

Und nun bin ich endlich auf dem Punkt angekommen, wo ich euch zeigen kann, was ich euch versprochen habe: die Größe des ersten Kapitals, welches die seligste Jungfrau Maria besaß. Es genüge euch zu bedenken, daß die erste Gnade, welche ihr verliehen wurde, die letzte Gnade des Höchsten aller Engel überstieg. Urteilet demnach, ob sie wirklich reich und groß gewesen!

Möge euch aber nicht die Lust anwandeln, etwa weiter und eingehender zu forschen: um wie viel sie jene überstieg. Denn ich habe den Mut nicht, euch hierauf zu antworten. Fraget den, der sie spendete; er allein kennt ihre Größe; er allein hat sie berechnet.
Ich meinerseits will lieber den unterbrochenen Faden wieder aufnehmen.

Aber da sehe ich, daß ich schon eine weite Strecke zurückgelegt habe und doch befinde ich mich noch immer am Anfang meines Weges. Folget mir indessen weiter mit den Gedanken und werdet nicht müde, denn ich will euch in ein weites tiefes Meer führen, wo wir, wenn am Ende nichts anderes zu tun sich findet, dreist den Entschluss fassen werden, alle zugleich in einem süßen Schiffbruch des Staunens unterzugehen, um uns in der unerreichbaren Heiligkeit Maria`s ganz zu versenken.

Die erste, schon so unermeßliche Gnade wurde dann der seligsten Jungfrau jeden Augenblick verdoppelt. Ich könnte dies als zweifellose Wahrheit voraussetzen; denn da eben diese Verdoppelung auch allen Engeln zuteil wurde – während der kurzen Zeit, innerhalb welcher auch sie ihr Leben der Prüfung zu bestehen hatten, – wie wäre es möglich, daß sie an Maria, der Königin der Engel, nicht in noch ausgezeichneterer Weise hervorträte?

Albert der Große hielt es für eine sich ganz von selbst verstehende Wahrheit, daß man keinem Wesen, das niederer steht als Maria, irgend einen Vorzug zusprechen könne, den man nicht zugleich auch ihr zuschreiben müsste: Es ist ein Grundsatz, der von selbst klar ist, daß der seligsten Jungfrau alle Gnaden der Heiligen in vollkommener Weise verliehen worden sind.
Es läßt sich nicht leugnen, daß die seligste Jungfrau beflissen gewesen sei, im möglichst schnellen Fortschritte stets neue Gnadenerwerbungen zu machen; denn da sie frei von jeder sündhaften Neigung war, so ging sie ohne Widerstand vorwärts.

Wenn unter uns auch jemand sich findet, der mit großen Schritten oder sogar auf Flügeln zur Heiligkeit eilt, so bewegt er sich doch nie mit vollendeter Geschwindigkeit; denn sein Lauf, sein Flug trifft stets auf einen Widerstand, der ihm Zögerung bereitet; er trägt in sich den Hang zur Sünde, jene böse Neigung der eigenen verderbten Natur, vermöge welcher er nicht Gott, dem wahren Mittelpunkt der Seele, sondern sich selbst zustrebt.

Bei der seligsten Jungfrau war dies nicht der Fall. Denn da sie von dem ersten Augenblick ihrer Empfängnis an ganz frei von jeder sündigen Neigung war, so stieß sie nie auf einen Widerstand, der sich ihrem glücklichen Fortschritt in den Weg gelegt hätte.

Gleichwie sie daher im Reiche der Gnade das erste Geschöpf war, welches aus dem Munde des göttlichen Wortes hervorkam: „Die Erstgeborene aus dem Munde des Allerhöchsten“ , und wie das erste Geschöpf im Reiche der Natur, welches aus demselben Munde hervorging, das Licht war; so war Maria auch hierin, daß ihre Verdienste in einem Augenblick auf das Schnellste sich ausbreiteten, dem Lichte überaus ähnlich.

Sehet demnach, worauf die hohe Überzeugung sich gründet, welche die andächtigen Verehrer der Gottesmutter von deren Verdiensten haben, indem sie behaupten, daß sie jeden Augenblick die ihr verliehene Gnade verdoppelte. Einerseits ist die innewohnende Tugendfertigkeit, verbunden mit dem einwirkenden Gnadenbeistand, wie die Schulen sagen, eine vollkommen hinreichende Kraft, um eine Tat hervorzubringen, welche ihrer inneren Mächtigkeit nach der schon vorhandenen Tugendfertigkeit gleichkommt; und andererseits war die seligste Jungfrau, weil von keinem Hindernisse berührt, so tätig, als sie nur konnte, und ließ nie, auch nur für einen Augenblick, das reiche Talent vergraben, welches Gott ihr fort und fort vermehrte, um damit zu wuchern.

Daraus folgt, daß Maria mit dem zweiten Akte das Verdienst des ersten verdoppelte, die Tugendfertigkeit doppelt mächtig und so sich fähig machte, durch den dritten Akt das Verdienst des zweiten wieder zu verdoppeln.

Die Gnadenvermehrung Mariens

Ich sehe wohl ein, daß diese Darstellung kein Licht für jedes Auge ist, aber was liegt daran? Um die Sache recht zu erklären, muss mir hier eben der Umstand dienen, daß ich nicht vollkommen verstanden werden kann. Wer eine derartige Berechnung nicht gänzlich begreift, möge sich nur freuen, daß die Herrlichkeiten der seligsten Jungfrau seinen Verstand übersteigen oder seine Fassungskraft verwirren, und möge um so mehr das lieben, was er nicht begreift, um eines Tages desto besser verstehen zu können, was er gegenwärtig zu lieben sich begnügt.

Nichtsdestoweniger will ich jedes Mittel versuchen, um euch diese unermeßliche Gnadenvermehrung womöglich noch anschaulicher zu schildern.

Setzet euch vor eines jener Schachbretter, auf welchem ihr im Spiel vielleicht mehr als einmal das beste Gold, ich meine das unwiederbringliche Gold der Zeit, verloren habet, – und machet es so: auf das erste jener vierundsechzig Felder, in welche das Schachbrett geteilt ist, setzet einen Sack voll Getreide, auf das zweite zwei, auf das dritte vier, auf das vierte acht und so weiter, immer die Zahl verdoppelt bis zum letzten Feld – wie ich oben schon erklärt habe; und ich sage euch, daß nicht bloß auf eurer Tenne, sondern nicht einmal in der ganzen Welt so viele Getreidesäcke sind, als das vierundsechzigste Feld, das letzte auf dem Schachbrett, erfordern würde. Denn die Schiffe, welche notwendig wären, um, auf jedes dreitausend Lasten gerechnet, eine so ungeheure Menge Getreide zu laden, würden sich auf nicht weniger als 1,779,199,852 belaufen. Eine solche Zahl von Fahrzeugen hat aber der Ozean bisher noch niemals auf seinem Rücken getragen und wird sie wohl bis ans Ende der Welt niemals zu tragen haben.

Legen wir nun diese nämliche Berechnung zu Grunde, so ist es offenbar, daß die seligste Jungfrau, hätte sie auch bei ihrer unbefleckten Empfängnis von dem ewigen Worte, als erstes Unterpfand jener Mitgift, die dasselbe ihr bereitete, vorläufig nicht mehr als nur einen einzigen Grad von Gnade empfangen (so viel nämlich als ein Kind besitzt, welches unmittelbar nach der Taufe stirbt), doch, selbst wenn sie dieses ihr Kapital nicht öfter als nur in jeder Viertelstunde einmal verdoppelte, schon innerhalb vierundsechzig Viertel-stunden des ersten Tages oder in sechzehn Stunden, zu einem so unaussprechlichen Reichtum gelangt wäre, daß nicht bloß unser menschlicher Verstand, der so blöde ist, sondern sogar der Verstand der Seraphim Mühe hätte, die ganze Summe zu überschauen, – eine Summe so endlos, daß man den Atem verliert, wenn man sie aussprechen will. Seht nur, wie oft man absetzen muss, um alle diese Ziffern mit einem Male zu sagen, denn die volle Summe lautet: 18,446,744,073,709,551,616.

Erwäget nun, was herauskommen muss, wenn man nicht bloß einen einzigen Grad von Gnade als erstes Kapital, das der Gottesmutter verliehen wurde, voraussetzt, sondern so viele Grade, als der heilige Erzengel Michael besaß, und mehr noch als dieser: wenn man betrachtet, daß Maria diese Gnade nicht bloß während zweier Drittteile eines Tages, sondern während ihres ganzen Lebens, also zweiundsiebzig Jahre hindurch – die Zeit, welche sie im Mutterschoße zubrachte, ungerechnet – stets verdoppelte und vermehrte: wenn man bedenkt, daß sie wegen der vollkommenen Herrschaft, welche sie über alle ihre Handlungen besaß, niemals etwas tat, was nicht bewußt oder überlegt gewesen wäre: wenn man endlich voraussetzt, daß, wie bewährte Männer der Wissenschaft lehren, ihr Geist sogar im Schlaf nicht aufhörte, zu verdienen, gleichwie unser Herz selbst im Schlaf nicht aufhört, sich zu bewegen; wer vermag dann je einen so großen Schatz zu beschreiben? Wer vermag ihn zu begreifen?

Bei der so raschen und fortwährenden Gnadenvermehrung, welche nicht bloß alle Stunden, sondern beinahe alle Minuten, jeden Augenblick stattfand, müssen wir sagen, daß sie schon binnen einer kurzen Zeit ihres Lebens zu einer so überschwänglichen Ziffer gelangte. Ich bin demnach der Meinung, daß man nicht bloß am Schluss dieser Lebenszeit, als das ewige Wort persönlich erschien, um an das hehre Bild der seligsten Jungfrau die letzte Hand anzulegen, und wie große Künstler zu tun pflegen, mit eigener Hand des Bildes Namen darunter zu setzen: „Werk des Höchsten“ (Ekkl. 43, 2), – von ihr sagen konnte, sie sei dem ganzen Himmel an Schönheit gleich: „Schön bis du und lieblich wie Jerusalem“ (Hohelied 6, 3); sondern daß man dies auch schon viel früher von ihr sagen musste, als sie nämlich noch in der Ausarbeitung begriffen war. Und sie besaß deshalb nicht bloß im Augenblick ihres Todes, sondern auch während ihres Lebens eine größere Gnade, als alle himmlischen Bewohner zusammen genommen.

Der unbegreifliche Gnadenschatz

Was muss man aber erst sagen, wenn man in Erwägung zieht, daß ich bei jener wundervollen Vermehrung der Verdienste, von welcher ich oben sprach, dasjenige bisher gar nicht in Betracht nahm, was man vielleicht den besten Teil des herrlichen und wesentlichen Gnadenschatzes der Gottesmutter nennen kann, und das immer fruchtbringend sich weiter entwickelt!

Und worin besteht dieses? Es besteht in jener Gnade, welche nicht in Ansehung des Eifers gegeben wurde, den jene höchstbeglückte Seele ihrerseits durch ihre Mitwirkung betätigte, sondern einzig und allein in Ansehung Jesu Christi, der in ihr nach seinem Willen wirkte, was ihm gefiel. (Anm.: Die Schule nennt diese Gnade ex opere operato)

Gewiß, wenn auch diese Gnade noch zu der so vielfach vermehrten Summe gerechnet wird, dann hat nicht bloß die ganze Algebra der Erde, sondern nicht einmal die des Himmels Ziffern genug, um sie vollständig darzustellen, – wenn man nicht in Gottes Geist eindringt, um dort die Ziffern zu entholen, welche daselbst verborgen sind.

Wer vermöchte zu begreifen, wie viele Güter das ewige Wort über Maria ausgoß, als sie ihn das erste Mal in ihrem jungfräulichen Schoß aufnahm? Wie viele, während sie ihn unter ihrem Herzen trug? Wie viele, als sie ihn gebar? Wie viele, als er, vom Tode wieder erstanden, sie nach seinem glorreichen Siege besuchte? Wie viele, als er sie verließ, um zum Himmel aufzufahren? Wie viele, als er vom Himmel herab den heiligen Geist mit allen Strömen seiner reichsten Gaben auf sie nieder sendete? Wie viele endlich, als er in eigener Person herabstieg, um ihren Geist aufzunehmen, der wie ein himmlisches Feuer nicht mehr außerhalb seiner Sphäre bleiben wollte und daher die Erde verließ?

Und doch ist noch mehr zu sagen. Denn man nimmt an, daß die seligste Jungfrau nach der Himmelfahrt ihres göttlichen Sohnes noch vierundzwanzig Jahre und einige Monate gelebt habe, während welcher Zeit sie, wie es die damalige Sitte der Gläubigen mit sich brachte, höchst wahrscheinlich jeden Tag die heilige Kommunion empfing. Wenn man daher richtig zählt, wird man finden, daß sie mehr als achttausend achthundert und fünfzig Mal neuerdings ihren Sohn im Sakrament in sich aufnahm.

Nun weiß aber jedermann, daß im heiligsten Altarssakrament die Gnade je nach der Würdigkeit gewonnen wird, mit welcher die Seele zu demselben hinzutritt. Und wenn daher die Würdigkeit der heiligsten Gottesmutter jeden Begriff überstieg, so war nicht minder unbegreiflich der Schatz, welchen ihr göttlicher Sohn aus dem unermeßlichen Schacht seines kostbarsten Blutes stets in ihr Herz gießen musste, da er unter dem Schleier der geweihten sakramentalischen Gestalten ihr wohl seine sichtbare Gegenwart, aber nicht seine Liebe verbergen konnte.

Pater Suarez sprach diese Meinung zuerst offen aus

Nur will ich schließlich zu bemerken nicht unterlassen, daß die vorgetragene Lehre, die Gnade, welche die seligste Jungfrau besitzt, sei größer als die Gnade aller Heiligen zusammen genommen, der Gottesmutter selbst so wohlgefällig war, daß sie eigens dem Suarez ihren Dank ausdrücken ließ, der unter den Scholastikern zuerst diese fromme Meinung offen aussprach und auf der ausgezeichneten Hochschule von Salamanca verteidigte.

Es gilt mir dies als ein überaus mächtiger Grund, um auch meinerseits ihr zu folgen.

Zwar fehlte es später nicht an solche, welche, den Ansichten eines so großen Mannes wenig zugetan, zu behaupten sich nicht scheuten (denn andere Beweise, um seine Lehre zu widerlegen, standen ihnen nicht zu Gebote), er habe hierin sich fein erfundenen Mutmaßungen hingegeben. Ich indessen weiß, daß die seligste Jungfrau dem Manne, der jene Lehre aussprach, ihren Dank kundgeben ließ; ob sie aber je einem, der dieselbe bestritt, ihren Dank zu bezeigen für gut fand, weiß ich nicht.

Wenn daher eine wissenschaftliche Folgerung, welche mit so viel Nachdenken zur Reife gebracht wurde, welche von so vielen Gründen der Angemessenheit unterstützt, durch die Überzeugung so vieler Väter begünstigt, und dann durch die Zustimmung einer ganzen Schule, wie der von Salamanca, getragen und bestätigt wird, eine fein erfundene Mutmaßung ist, so können wir uns dies gefallen lassen, da Suarez mit so viel Glück schrieb, daß er selbst da, wo er mutmaßte, geradezu ins Schwarze traf.

Freilich ist die seligste Jungfrau auch ein so großes Ziel, daß es, wenn man ihr hohes Lob verkündet, selbst einem Blinden schwer hält, nicht das Richtige zu treffen – geschweige denn einem so gewandten und scharfsinnigen Schützen. –
aus: P. Paul Segneri SJ, Die Andacht zur seligsten Jungfrau Maria, 1858, S. 101 – S. 164

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