Die Überraschung in der letzten Stunde
Betrachtung zum 16. Dezember
Si non vigilaveris, veniam ad te, tamquam fur; et nescies qua hora veniam ad te.
Wenn du nicht wachest, so werde ich zu dir kommen, wie ein Dieb; und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich zu dir kommen werde. (Offb. Joh. 3, 3)
1. Erwäge, welch ein wohlwollender Dieb dies ist, der dich auffordert zu wachen. Sicher wünscht er nicht, dich unversehens zu überfallen; denn sonst – wer möchte daran zweifeln? – würde er dir gewiß zusprechen zu schlafen.
Bemerke daher, daß er nicht einfach zu dir sagt: Ich werde zu dir kommen wie ein Dieb; sondern die Bedingung voraussetzt: „Wenn du nicht wachest, so werde ich zu dir kommen, wie ein Dieb.“
Wenn du dich daher unglücklicher Weise bei deinem Tode plötzlich von ihm, wie von einem Dieb, überrascht siehst, so wird die schuld nur bei dir, nicht bei ihm sein. Er macht dich eben aus dem Grund aufmerksam, daß er zu dir kommen werde, wann du es am wenigstens erwartest, damit du ihn zu jeder Stunde erwartest.
2. Erwäge: nachdem dir der Herr angekündet hatte, daß er, falls du nicht wachsam bist, bei deinem Tode wie ein Dieb, das heißt, mit einem Male, unvermutet, ungeahnt über dich kommen werde: „Wenn du nicht wachest, werde ich zu dir kommen, wie ein Dieb“; möchte die weitere Bemerkung, die er noch hinzu fügte, überflüssig scheinen: daß du nämlich die Stunde nicht wissen werdest, wann er dich plötzlich betreten wird: „Und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich zu dir kommen werde.“ Denn man sollte glauben, daß er dir dies schon genugsam zu verstehen gegeben habe, da er sprach: „Ich werde zu dir kommen, wie ein Dieb.“
Aber du irrst dich. Jene neu hinzu gefügte Warnung ist keineswegs überflüssig.
Und der Grund ist: weil , wenn du auch mitten in der nacht nicht selbst den Dieb bemerkst, wegen des tiefen Schlafes, der zu dieser Zeit über dir liegt, – es doch sein kann, daß Andere statt deiner ihn bemerken, und so im rechten Augenblick dich aufwecken. In diesem Fall nun kommt wirklich der Dieb zu dir wie ein Dieb; und dessen ungeachtet kann man nicht sagen, daß du nicht weißt, zu welcher Stunde er zu dir kommt; indem du durch Andere davon in Kenntnis gesetzt wirst.
In dem Fall hingegen, von welchem der Herr hier spricht, wird dies keineswegs geschehen. Denn der Herr wird da zu dir kommen, – ganz unerwartet, wie ein Dieb; und Niemand wird zugleich dich wissen lassen können, wann er kommen wird: „Und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich zu dir kommen werde.“
Er wird in Betreff dieser seiner Ankunft nicht allein dich täuschen, sondern auch alle Ärzte welche dir ihre Hilfe leisten, alle Freunde, alle Verwandte, alle deine Hausgenossen, so daß Niemand dir wird zurufen können: Siehe, hier ist der Dieb! Oder ist dir nicht bekannt, wie Viele wegen unvorhergesehener Unfälle so plötzlichen Todes sterben, daß man eher weiß, daß sie gestorben, als daß sie am Sterben sind?
So, warnt dich der Herr, wird es eines Tages auch dir ergehen, wenn du fortfährst, in der Sünde zu schlafen. Denn dies ist die furchtbare Strafe, welche den zu ereilen pflegt, der nicht ein Mal, sondern viele und viele Male gemahnt, daß er aufwachen solle, doch niemals aufwachen will: die Strafe ist, sage ich, ein unvorhergesehener Tod: „Den Mann, welcher den, der ihn zurecht weist, hartnäckig verachtet, wird plötzliches Verderben überfallen.“ (Prov. 29, 1)
3. Erwäge: wann du auch wachsam bist, um die Ankunft deines Herrn zu erwarten, kann es dir doch immerhin scheinen, daß er nichts desto weniger in der letzten Stunde wie ein Dieb über dich kommt, weil er kommen wird, um dir Alles zu nehmen, was di besitzest: Reichtümer, Ehren, weltliche Größe, Freunde, Vaterland, Verwandte, Annehmlichkeiten, und am Ende sogar deinen Körper.
Aber dies wird nur dann der Fall sein, wann du in deinem Leben das Herz an diese Güter hängst. Denn wenn du, schon bevor er zu dir kommt, um sie dir zu nehmen, wenigstens mit dem Herzen und der Neigung dich von allen diesen Dingen gänzlich los zu reißen bestrebt bist, dann wirst du in dem Augenblick seiner Ankunft nichts weiter zu tun haben, als sie bereitwillig Dem wieder zurück zu stellen, der sie dir gab oder, besser gesagt, dir lieh. Und darum wird er dann nicht wie ein Dieb zu dir kommen, um dir das deinige zu nehmen; sondern wie ein Herr, um von dir bloß das wieder zurück zu verlangen, was dir von ihm zum Gebrauch gegeben worden war.
Dann wird er wahrhaft wie ein Dieb zu dir kommen, wann du in der Tat eine übermäßige Anhänglichkeit an diese Güter in deinem Herzen trägst. Ich sagte wie ei Dieb; denn da er dir nur das nimmt, was ohnehin sein Eigentum ist, so wird er kein Dieb, sondern nur wie ein Dieb, gleichsam ein Dieb sein; weil es dir scheinen wird, als nähme er dir das, was dir gehört.
Halte dich also immer im Geiste bereit, deinem Herrn und Gott Alles zurück zu stellen, was du jetzt wohl besitzest, aber nur – auf eine gewisse Zeit. Und zu diesem Behuf sei stets wachsam auf dein Herz: schilt es, rüttle es auf, damit es sich nie unglücklicher Weise verleiten lasse, das als sein Eigentum zu lieben, was es nur als dar geliehenes Gut besitzt.
Dann, wenn du so handelst, wird der Herr nicht einmal in diesem Sinne bei jenem letzten Augenblick als Dieb, sondern als wahrer Wohltäter mit dir verfahren. Denn er wird dir das geringere nehmen, und das Größere geben: er wird dir das Irdische nehmen, und das Himmlische geben: er wird dir das Zeitliche nehmen, und das ewig Dauernde geben: „Er wird erscheinen – denen, die ihn erwarten, zum Heile.“ (Hebr. 9, 28) –
aus: Paul Segneri S.J., Manna oder Himmelsbrod der Seele, 1854, Bd. IV, S. 545 – S. 548