Der Zweite Tag der Weihnachtsoktave
Wir können den zweiten Tag der Weihnachtsoktave nicht schließen, ohne daß wir an der Wiege unseres Emmanuel gestanden, ohne daß wir den göttlichen Sohn der Maria betrachtet hätten. Zwei Tage sind bereits vorüber, seit seine Mutter ihn in die niedrige Krippe gelegt, und diese beiden Tage gelten für das Heil der Welt mehr, als die der Geburt dieses Kindes voraus gegangenen Jahrtausende. Das Werk unserer Erlösung schreitet vor und das Weinen des Neugeborenen beginnt bereits als Gegengewicht gegen unsere Sünden in die Waagschale zu fallen. Betrachten wir denn heute am Fest des ersten Märtyrers die Tränen, welche, als die ersten Anzeichen seiner Leiden, über die kindlichen Wangen Jesu Christi rollen. „Es weint, dies Kind“, sagt der heilige Bernhard, „aber nicht wie und nicht warum andere Kinder weinen. Die Kinder der Menschen weinen aus natürlichem Drang und natürlichere Schwachheit; Jesus weint aus Mitleid und Liebe zu uns.“ Sammeln wir die kostbaren Tränen eines Gottes, der unser Bruder sein will und der nur über unsere Übel weint. Lernen wir daraus, das Übel unserer Sünde zu beklagen. Denn sie ist es, welche das frühe Leid des zarten, uns vom Himmel gesandten Kindes veranlaßt; sie ist es, welche die süße Wonne trübt, womit seine Ankunft unser Herz erfüllte.
Auch Maria sieht diese Tränen und ihr Mutterherz ist darüber verwirrt. Sie hat bereits ein dunkles Vorgefühl, daß sie einen Mann der Schmerzen zur Welt gebracht. Bald wird sie es noch besser erkennen. Vereinen wir uns alle mit ihr, um den Neugeborenen durch die Liebe unserer Herzen zu trösten. Dies allein ist es ja, das er zu suchen gekommen. Deshalb hat er so viele Demütigungen ertragen, deshalb ist er vom Himmel herab gestiegen und hat alle die Wunder vollbracht, von welchen wir umgeben sind. Lieben wir ihn also mit der ganzen Kraft unserer Seele und bitten wir Maria, daß sie ihren Sohn bestimme, die Gabe unseres Herzens willfährig anzunehmen. Der Psalmist hat gesungen und rief aus: „Der Herr ist groß und wert alles Lobes!“ Fügen wir mit dem heiligen Bernhard bei: „Der Herr ist klein und wert aller Liebe!“ –
aus: Dom Prosper Guéranger, Die heilige Weihnachtszeit, 1892, S. 298 – S. 299