Das kostbare Blut: Was wäre die Welt ohne Jesus?
Ein wahrer Christ fühlt, daß er ebenso wenig eine Stunde ohne Jesus leben könnte, als er eine Stunde leben könnte ohne Luft oder unter dem Wasser. Es liegt etwas Wonniges in diesem Gefühl gänzlicher Abhängigkeit von Jesus.
Die Liebe zu Jesus kann nie eine Liebe sein, die nicht wächst. Sie muß wachsen, wenn sie nicht erstirbt.
Eine beständig zunehmende fühlbare Liebe unsers teuersten Herrn ist das sicherste Merkmal unseres Wachstums an Heiligkeit und die beruhigendste Prophezeiung unserer endlichen Beharrlichkeit.
Was wäre die Welt ohne Jesus? Wir haben uns vielleicht zuweilen ein Bild gemacht von dem Tage des Gerichts. Wir haben uns vielleicht die Stürme oben und die Erdbeben unten vorgestellt; wie die Sonne und der Mond sich verfinstern, wie die Sterne vom Himmel fallen, wie das Feuer über die Oberfläche der Erde hinrast, wie die Menschen den Bergen und Felsen zurufen, sie möchten über sie fallen und sie verbergen, und wie Jesus von Osten kommt um die Welt zu richten.
Wir halten es für angemessen dem Bilde jeden Zug von physischem Aufruhr und von Verwüstung, die wildeste Entfesselung der Elemente beizugeben, obwohl ohne Zweifel die Katastrophe jenes Tages der Schrecken der erhabenen Gleichförmigkeit eines Naturgesetzes folgen wird, selbst mitten unter der Heftigkeit ihrer Erschütterungen.
Und doch wird das Elend und die Verwirrung der Erde an jenem Tage weniger wirklichen Schrecken in sich haben, als die Erde ohne Jesus haben würde, selbst wenn die Sonne schiene und die Blumen blühten und die Vögel sängen. Eine Erde ohne Hoffnung oder Glückseligkeit, ohne Liebe oder Frieden, die Vergangenheit eine Bürde, die Gegenwart ein Überdruß, die Zukunft ein gestaltloser Schrecken, das wäre die Erde, wenn – den unmöglichen Fall angenommen – kein Jesus wäre. Wir können in der Tat uns nur auf eine so allgemeine Weise denken, was die Welt wäre ohne Ihn. Wir können uns kein Bild von den wirklichen Schrecken machen.
Seine fünf Wunden sprechen immer für uns zur rechten Hand des Vaters; sie halten den göttlichen Zorn zurück; sie leisten der göttlichen Gerechtigkeit Genugtuung; sie bewegen das göttliche Mitleid.
Selbst zeitliche Segnungen kommen von ihnen. Sie zügeln das Erdbeben und den Sturm, die Pest und den Hunger und tausend andere zeitliche Folgen der Sünde, die wir nicht kennen oder nicht einmal ahnen.
Mit unserm innersten Leben verbunden
Überdies ist Jesus mit unserm innersten Leben verbunden. Er ist mehr für uns als das Blut in unseren Adern. Wir wissen, daß Er unumgänglich notwendig für uns ist, aber wir können uns nicht vorstellen, wie notwendig Er ist.
Es gibt kein Verhältnis im Leben, in dem wir ohne Jesus auskommen könnten. Wenn Herzeleid uns trifft, wie sollten wir es ertragen ohne Ihn? Was für einen Trost gibt es für den gewöhnlichen menschlichen Kummer, der nicht durch Glaube oder Hoffnung oder Liebe dargeboten wird?
Wir können die gänzliche moralische Verlassenheit einer gefallenen Welt ohne die erlösende Gnade nicht übertreiben. Für die abtrünnigen Engel ist diese Verlassenheit einfach eine ewige Hölle.
Gesetzt, das ein paar Wochen alte Kind liegt wie eine verwelkte Lilie, blaß, kalt, eingefallen. Tot vor den Augen der zärtlichen Mutter, die es erst vor kurzem gebar; wie trostlos ist da das Weh in ihrem Herzen, wenn die Wasser der Taufe es nicht begossen haben! Aber was sind jene Wasser anders, als das Blut Jesu?
Nun kann sie nieder sitzen und nachdenken und dankbar sein, selbst während sie weint, und kann durch Tränen lächeln, die wie der Regenbogen ein Zeichen sind von dem Bund, Gottes mit seinem Volk; denn sie hat gar viele süße Dinge zu denken, freudige Bilder durchziehen ihren Geist und Klänge von Engels-Melodien tönen im Ohr ihrer Seele; diese Dinge sind nicht Einbildungen, sondern Gegenstände des Glaubens, Erkenntnisse, unfehlbare Gewissheiten.
Selbst wenn ihr Kind nicht getauft wäre, dann ist, so traurig der Gedanke sein mag, daß es niemals Gott sehen kann, sein ewiges Los um Jesu willen frei von allen fühlbaren Peinen und Schrecken, die es sonst getroffen hätten. Es verdankt die natürliche Seligkeit, die es einst genießen wird, den Verdiensten unseres liebsten Herrn. Es ist besser, sogar für die kleinen Unmündigen, die nicht sein sind, daß er selbst einst das Kindlein von Bethlehem war.
Kummer ohne Christus ist nicht auszuhalten. Ein solches Los wäre schlimmer als das der Tiere des Feldes, weil der Besitz der Vernunft ein weiteres Unglück wäre. Das nämliche gilt von Krankheit und von Schmerz.
Im Leben und Tod unumgänglich
Was ist die Absicht des Schmerzes wenn nicht die Reinigung unserer Seele? Wer könnte ihn Jahre lang ertragen, wenn keine Bedeutung darin läge, wenn er keine Zukunft, keine wirkliche Aufgabe hätte, womit er tatsächlich beschäftigt war? Auch hier würde der Besitz unserer Vernunft zu unserm Nachteil wirken; denn er würde die Geduld der Tiere für uns unmöglich machen.
Das lange, schmerzhafte, zehrende Krankenbett mit seinen endlosen Nächten und Tagen, mit seinen wachen Erinnerungen, mit seiner feinen Empfindlichkeit, mit seiner inneren Lebensgeschichte, die stets neue Szenen vorführt, mit seinen lästigen Zeiten der Einförmigkeit, – was wäre es, wenn wir nicht den Sohn Gottes kännten, wenn Jesus nie Mensch gewesen, wenn seine Gnade der Ausdauer nicht wirklich aus seinem Herzen in das unsrige übergegangen wäre, damit wir lieben können, selbst während wir murren, und am meisten an die Barmherzigkeit glauben, wenn sie sich am wenigstens barmherzig zeigt?
In Armut und Mühsal, in Anfällen der Versuchung, in der ungemäßigten Hitze der Jugend oder in der mürrischen Mattigkeit des Alters, im unaufhörlichen Fehlschlagen unserer Pläne und in der getäuschten Erwartung unserer Lieblingswünsche, in jeder Krisis und bei jedem Umschwung des Lebens scheint uns Jesus so notwendig, daß es uns vorkommt, Er sei uns jedes Jahr notwendiger und heute mehr vonnöten als gestern und morgen noch dringender nötig als heute.
Wenn Er aber im Leben so unumgänglich notwendig ist, wie viel mehr ist Er es im Tode? Wer könnte zu sterben wagen ohne Ihn? Was wäre der Tod, wenn Er nicht selbst so seltsam und so gnadenreich gestorben wäre?
Doch was ist der Tod im Vergleich mit dem Gericht? Gewiß werden wir Ihn dann am allermeisten bedürfen.
Bedürfen! O, es ist etwas mehr als Bedürfnis, wenn ein so unaussprechliches Verderben unvermeidlich vor uns liegt!
Liebster Herr! Das Licht der Sonne und die Luft des Himmels sind uns nicht so notwendig als du und unser Glück, nicht nur unser größtes, sondern unser einziges Glück beruht auf dieser teuren Notwendigkeit!
Niemand ist ohne Jesus in der Welt
Die Heiden
Selbst die Verlorenen in der Hölle leiden wegen der Allgegenwart seines mächtigen Blutes weniger, als sie sonst gelitten hätten.
Und doch gibt es Völker, die insofern ohne Ihn sind, als sie keine Kenntnis von Ihm haben, die zu ihrem Heile diente. Ach! Es gibt noch Heidenland in dieser schönen Welt.
Es gibt Völkerstämme und Nationen, die Klötze und Steine anbeten, die aus den unsichtbaren Teufeln Götter machen, die vor den Kräften der Natur zittern, wie wenn sie zugleich allmächtig und bösartig wären, oder die in beständiger Furcht leben vor den Seelen der Verstorbenen.
Es gibt einige, deren süßeste gesellige Verhältnisse durch die Schrecken ihrer falschen Religionen verbittert werden, und der unschuldige Sonnenschein köstlicher Himmelsstriche wird nicht selten durch Menschenopfer befleckt.
Und doch wohnen diese Völker in einigen der lieblichsten Teile der Welt, die dem Menschen als Erbe zugefallen. Mitten unter den wilden Waldhöhen der Felsengebirge, auf den östlichen Anhängen der herrlichen Anden, in den prächtigen Schluchten des Himalaya, auf den Blumen besäten Koralleninseln des Stillen Meeres oder in jenen natürlichen Paradiesen, die die warme See des indischen Archipels bespült, wird das menschliche Leben unmenschlich gemacht durch die Schrecken einer falschen Religion …
Denkt an jene armen Heiden, die ohne Erlöser über ihre schönen Lande hin irren – wie, wenn wir ihnen gleich wären? Und was wären sie vielleicht geworden, wenn sie nur die Hälfte unserer Gnade gehabt hätten?
Die Irrgläubigen
Es gibt viele, die sich nach dem Namen Christi nennen, die aber dennoch außerhalb der Kirche Christi stehen. Sie haben in jeder Hinsicht ein trauriges Los.
Jesus so nahe sein und doch nicht zu seiner gesegneten Herde gehören, im Bereich seiner unergründlichen Schätze sein und sie doch nicht erreichen, so gesegnet von seiner Nähe und doch nicht mit ihm zum Heil vereinigt sein: dies ist in der Tat eine trostlose Lage.
Ihr Glaube besteht in Worten, nicht im Leben. Sie haben keinen richtigen Begriff von der erlösenden Gnade; sie verstehen die geheimnisvollen Neigungen seines heiligen Herzens nicht. Sie mißachten seine verborgenen Sakramente. Sie kennen Gott nur falsch und teilweise. Ihre Kenntnis ist weder Licht noch Liebe.
Alles an Jesus, die geringste Nebensache seiner Kirche, die schwächste Spur seines Segens, sogar der Schatten seines Bildes ist von so unvergleichlicher Wichtigkeit, daß für das geringste dieser Dinge die ganze Welt nur ein ärmlicher Preis wäre.
Die Gnade in der wahren Kirche zu sein ist die größte aller Gottesgaben, die wir außer dem Himmel empfangen können. Wir können ihren Wert nicht übertreiben; sie ist eine unschätzbare Perle.
Daher ist auch das Elend außerhalb der Kirche zu sein nicht mit Worten auszudrücken. Ich zweifle sogar daran, ob es in Gedanken zu erfassen ist…
Die lauen Katholiken
Aber auch innerhalb der Kirche gibt es umher irrende Kaine, unbußfertige Sünder, die aus der Gegenwart Gottes gegangen sind und sich absichtlich davon ferne halten. Sie haben Jahre lang in der Sünde gelebt; die Ketten sündhafter Gewohnheiten lasten schwer auf ihnen. Sie haben der Gnade tausendmal widerstanden; es scheint, als ob die geistlichen Einsprechungen müde wären so tauben Ohren zuzuflüstern. Nichts scheint sie aufzuwecken. Sie achten gar nie Gottes. Ihre Bekehrung muss ein vollkommenes Wunder sein. Sie sind verhärtet.
Nur durch Gottes Barmherzigkeit und die Verdienste Jesu sind wir etwas besser als diese verhärteten Sünder. Und doch sagen wir mit recht Gott Dank, selbst während wir vor der Möglichkeit zittern, daß er unsern Fall in einen solchen Zustand verhindert hat.
Was dann, wenn wir diesen Menschen gleich wären? Was dann, wenn wir unter die Verhärteten und Unbußfertigen gerechnet würden? Was dann, wenn wir eben jetzt wären, was wir selbst in vergangenen Jahren gewesen sind, ehe der starke Arm der Sakramente uns entgegen gestreckt wurde und wir die Gnade hatten ihn zu erfassen und uns von ihm sicher ans Ufer ziehen zu lassen?
Und doch wären wir, wenn wir solche wären, Heiden oder Irrgläubige oder verhärtete Sünder, noch immer weit besser daran, als wenn kein Jesus in der Welt wäre; denn alle diese Klassen von Menschen sind von Jesus gesegnet, werden beständig von seiner Gnade heim gesucht und sind Seinetwegen von hoffnungsvollen Möglichkeiten umgeben, die sie selbst nicht gewahr werden.
Wie unaussprechlich traurig müßte also unser Leben ohne Jesus sein, wenn es ein so schreckliches Elend ist ein Heide oder ein Irrgläubiger zu sein! –
aus: Frederick William Faber, Das kostbare Blut oder der Preis unserer Erlösung, 1920, S. 49 – S. 58