Barmherzigkeit ist daß wir nicht vernichtet sind

Der Heiland Jesus Christus, der gute Hirte, geht aus Barmherzigkeit und Liebe dem verlorenen Schaf, dem Sünder nach, der im Gestrüpp der Sünden gefangen ist, um ihn zu befreien, damit es nicht in den Abgrund der Hölle stürzt

Barmherzigkeit des Herrn ist es daß wir nicht vernichtet sind

 22. März

Misericordia Domini, quia non sumus consumati.
Barmherzigkeit des Herrn ist es, daß wir nicht vernichtet sind.“ (Klgl. 3, 22)

1. Betrachte, wie es einem Wanderer zu Mute wäre, wenn er nach einem mühsamen nächtlichen Marsche beim Anbruch des Tages sehen würde, daß er beständig am Rande eines schauerlichen Abgrundes dahin ging. O wie würde bei solchem Anblick all sein Blut stocken, wenn er die offenbare Gefahr bedächte, in der er sich befand! O wie würde er erbleichen und zittern, wie aufrichtig Gott dem Herrn danken, daß er ihn so beschützt hat! Ebenso würde es dir zu Mute sein, wenn dich Gott sehen ließe, in welcher äußersten Gefahr der ewigen Verdammnis du dich befandest. O warum sagst du einem so liebreichen Beschützer nicht wenigstens den herzlichsten Dank, und rufest aus: „Barmherzigkeit ist es, daß wir nicht vernichtet sind.“

2. Betrachte, wie töricht jener Wanderer wäre, der nach Erkenntnis der Gefahr die nächste Nacht neuerdings an jenem Abgrund gehen wollte. Verdiente er nicht, des himmlischen Schutzes ganz beraubt zu werden? Was tust aber du, indem du zu deinen alten Sünden zurückkehrst? Gib wohl acht: denn gleichwie früher nur wenig zu deiner Verdammnis fehlte, so kann dieselbe in der Zukunft von den kleinsten Dingen abhängen. Oder glaubst du, den Herrn koste es viele Mühe, dich deinem Untergang zugehen zu lassen? Im Gegenteil, er hat viele Mühe, dich zu retten; denn so viele böse Geister rufen beständig um die Erlaubnis, in ihrer Wut dir das Leben nehmen zu dürfen. „Sie sind mir mühsam zu tragen.“ (Is. 1, 14)

3. Betrachte, daß jener Wanderer, der einmal glücklich der drohenden Gefahr entgangen wäre, statt zum Abgrund zurückzukehren, sich vielmehr so weit als möglich davon entfernen würde. Warum näherst du dich doch wenigstens dem Abgrund, wenn du auch nicht ganz hingehst? Du hast allerdings, wie du sagst, den Vorsatz, keine Todsünde mehr zu begehen; aber was tust du unterdessen? Du streifest immer in den nächsten Gelegenheiten zur Sünde umher. Und das soll der Beweis sein, daß du die Wohltat erkennst, die dir Gott durch gnädige Bewahrung vor dem Verderben erwiesen hat? Das heißt ja den Herrn vielmehr herausfordern zur Rache, ihn reizen und erbittern, weil es ein Missbrauch seiner unermüdlichen Geduld ist. „Sie versuchten Gott immer wieder und erbitterten den Heiligen Israels.“ (Ps. 77, 41)

4. Betrachte, daß du dich bitter täuschest, wenn du auf den Beistand Gottes hoffest; und dich indessen freiwillig an den Abgrund begibst. „Siehe seine Hoffnung wird ihn betrügen, und vor aller Augen wird er in den Abgrund stürzen“, sagt Job (Job 40, 28) Es kann sein, daß dich der Herr aus besonderer Erbarmung manchmal in solchem Falle rettet, aber die allgemeine Regel ist, daß du fallen wirst. Und nach den allgemeinen Regeln muss sich ein kluger Mensch immer richten.
Vernimm deshalb, welchen Auftrag der Herr mit eigenen Worten deinen Schutzengeln gegeben. „Gott hat seinen Engeln deinetwegen befohlen, daß sie dich beschützen auf allen deinen Wegen“ (Ps. 90, 11); nicht auf den Abgründen, sondern auf den Wegen. Wenn du während deiner Pilgerfahrt auf den betretenen Wegen in eine Schlinge, in einen Fallstrick oder selbst in die größte Gefahr des Falles kommst; so hat dein Schutzengel den Befehl, dir schnell beizuspringen und dich vor dem Fall zu bewahren; nicht aber, wenn du dich freiwillig in Schluchten, Bergabstürze und Dornengestrüpp stürzest. Da wird er dich deinem Untergang zugehen lassen.
Glaubst du etwa, daß man nicht auch auf offenen Wegen in solche Gefahren kommen könne, in denen man die schleunigste Hilfe höchst nötig hat? Da täuschest du dich sehr. „Unsere Tritte“, sagte Jeremias, der doch ein Heiliger war, „unsere Tritte wichen aus beim Gang durch unsere Straßen.“ (Klgl. 4, 18) –
aus: Paul Segneri S.J., Manna oder Himmelsbrod der Seele, 1853, Bd. I, S. 227 – S. 229

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