Ein Bettler lehrt Tauler inneren Frieden

Nichts geschieht ohne Gottes Zulassung

Der Weg zum inneren Frieden

Ein weiser Bettler lehrt Tauler den inneren Frieden

„Freuet euch allzeit im Herrn, abermals sage ich, freuet euch!“ (Phil. 4, 4)

Ein merkwürdiges Beispiel für diese Wahrheit erzählt uns Tauler. Dieser fromme Priester wünschte nämlich sehnlichst, recht große Fortschritte in der Tugend zu machen, und da er sich in seiner Bescheidenheit nicht auf sein eigenes Wissen verließ, so flehte er während acht Jahren in inbrünstigem und demütigem Gebet zu Gott, er möge ihm doch einen Seelenführer senden, der ihm den kürzesten und sichersten Weg zu Gottes Wohlgefallen zeige. Als er nun eines Tages den Wunsch lebhafter als je empfand und mit erneutem Eifer Gott um Erhörung anflehte, rief ihm plötzlich eine Stimme zu: „Gehe hinaus; auf den Stufen, die zur Kirche führen, wirst du denjenigen finden, welchen du suchest!“

Tauler gehorchte und ging hinaus; aber an der bezeichneten Stelle erblickte er niemanden als einen armen Bettler, der schmutzig und barfuß, in elende Lumpen gehüllt, dastand und eher geeignet schien, das Mitleiden der Vorübergehenden zu erregen, als sie im inneren Leben zu unterweisen. Dessen ungeachtet sprach Tauler ihn an und wünschte ihm einen guten Tag. „Ich danke dir für deinen Gruß“, antwortete der Bettler; „allein ich kann mich nicht erinnern, je einen schlechten Tag gehabt zu haben.“ – „Gut“, nahm Tauler wieder das Wort, „so wünsche ich, daß Gott dir zu den guten Tagen, die du stets gehabt hast, noch alles mögliche Glück schenke!“ – „Ich danke dir“, erwiderte der Bettler; „aber wisse, daß ich nie unglücklich gewesen bin, und daß mir in meinem ganzen Leben noch kein Missgeschick begegnet ist.“ – „Wollte Gott“, sagte Tauler hierauf ganz erstaunt, „daß du mit all deinem Glück auch noch die ewige Seligkeit erlangst! Aber ich muss gestehen, daß mir der Sinn deiner Worte nicht recht klar ist.“ – „Du wirst noch mehr staunen“, versetzte der Bettler, „wenn ich dich versichere, daß ich stets selig war und es noch bin.“ – „Ich gestehe“, antwortete Tauler, „daß deine Worte mich in Erstaunen setzen und mir rätselhaft sind; sei doch so gut und sprich dich deutlicher gegen mich aus!“ Da gab der Bettler ihm folgende Erklärung: „Ich habe dir gesagt, daß ich nie einen schlechten Tag hatte; denn unsere Tage sind nur dann schlecht, wenn wir sie nicht dazu verwenden, Gott durch unsere Unterwürfigkeit die schuldige Ehre zu geben; sie sind dagegen immer gut, sobald wir sie der Verherrlichung und dem Lobe Gottes weihen, und dies können wir stets mit seiner Gnade, mag auch über uns kommen, was da will. Ich bin, wie du siehst, ein armer, kranker Bettler, der keine Stütze, keine Heimat hat, der allein die Welt durchwandert und überall viel Elend erduldet. Leide ich nun Hunger, weil niemand mir etwas gibt, so lobe ich Gott. Bin ich obdachlos, dem Regen, Hagel und Wind ausgesetzt, erstarren meine Glieder vor Frost, weil meine spärlichen Lumpen mich nicht vor der Kälte schützen können, so danke ich Gott dafür. Verachten mich die Menschen, weil ich arm und elend bin, so lobe und preise ich die göttliche Majestät. Mit einem Wort, was mir auch Herbes und Naturwidriges zustößt, ob mich die Menschen freundlich aufnehmen oder mit harten Worten von sich weisen, alles gibt mir Anlass, Gott zu loben; mein Wille bleibt stets in allen Dingen mit dem Willen Gottes vereinigt, und für alles preise ich seinen heiligen Namen. So ist für mich ein jeder Tag ein guter; denn nicht die Widerwärtigkeiten und Leiden, sondern unsere Ungeduld bringt uns schlechte Tage; warum anders aber sind wir ungeduldig, als weil unser Wille sich empört, anstatt sich pflichtgemäß zu unterwerfen und Gott stets nach Kräften zu loben und zu preisen?

„Ich habe dir ferner gesagt, ich sei nie unglücklich gewesen und es sei mit in meinem ganzen Leben noch kein Missgeschick begegnet, und du selbst magst sogleich urteilen, ob ich die Wahrheit gesagt habe oder nicht. Alle Menschen schätzen sich doch gewiß sehr glücklich, wenn die Dinge so gut gehen, daß sie es gar nicht besser wünschen könnten. Mir aber, wie ich hier bin, wird dieses Glück immer zu teil. Das wundert dich; allein dessen ungeachtet ist dem so, wie du es sogleich selbst einsehen wirst. Du weißt, daß nichts mit uns geschieht, was Gott nicht will, und daß das, was er will, immer das Beste für uns ist. Daraus geht hervor, daß ich mich stets glücklich schätzen soll, mag nun Gott schicken oder zulassen, was er will. Und wie sollte ich mich auch nicht glücklich schätzen, da ich doch vollkommen überzeugt bin, daß alles, was geschieht, gerade das Nützlichste und Zweckmäßigste für mich ist!“

Tauler, von Bewunderung über die hohe Weisheit dieses Bettlers hingerissen, bat denselben, er möge ihm jetzt doch auch sagen, wie er diese seine Grundsätze, die ihn so glücklich machten, praktisch in Anwendung bringe. „Indem ich mit Gott lebe wie ein Kind mit seinem zärtlichsten Vater“, antwortete der Bettler. „Ich vergesse nie, daß dieser allweise und allmächtige Vater wohl weiß, was für seine Kinder am besten ist, und daß er es ihnen stets gibt. Mag nun das, was geschieht, der sinnlichen Natur widerstreben oder schmeicheln, mag es süß oder bitter, der Gesundheit zuträglich oder nachteilig sein, ich nehme es in der Überzeugung an, daß es im gegenwärtigen Augenblick das Beste für mich ist, und ich bin damit so zufrieden, daß nichts anderes mich glücklicher machen könnte. Auf diese Weise ist alles Glück für mich, und für alles ohne Ausnahme danke ich dem lieben Gott!“

„Aber du hast mir drittens noch gesagt, du seiest selig“, erwiderte Tauler; „bitte, erkläre mir doch auch noch das.“ – „Ja“, sagte der Bettler, „derjenige ist gewiß selig zu preisen, dessen Wille immer und in allen Stücken ungehindert in Erfüllung geht und dessen Wünsche stets volle Befriedigung finden. Allerdings kann kein Mensch, solange er auf der Welt lebt, diese Glückseligkeit vollkommen erlangen; das ist den Heiligen im Himmel vorbehalten, deren Vereinigung mit dem Willen Gottes die höchste Vollendung erreicht hat. Aber wisse, daß wir berufen sind, schon hienieden teil daran zu nehmen, und zwar durch die Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem Willen Gottes. Dem Willen dessen, der nur will, was Gott will, tritt nie ein Hindernis in den Weg; alle seine Wünsche stimmen mit dem Wohlgefallen Gottes überein und müssen deshalb stets unfehlbar in Erfüllung gehen; er ist folglich selig, und diese Seligkeit genieße ich. Der Wille des Herrn macht mein ganzes Glück und meine ganze Wonne aus. Alles, was Gott tut, macht mich so glücklich, daß ich mich tausendmal mehr darüber freue, als ein anderer sich über die vollkommene Befriedigung seiner natürlichen Neigung freuen kann.“ Und Tauler staunte von neuem über die hohe Weisheit des armen Bettlers. –
aus: P. von Lehen S.J., Der Weg zum innern Frieden, 1896, Kap. 1, S. 15- S. 19

Tags: Gott

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