Das Geheimnis der Menschwerdung
Teil 2-3
Wirkungen der Menschwerdung für uns und das ganze Menschengeschlecht
Der unmittelbaren Wirkungen der Menschwerdung für das Menschengeschlecht waren besonders drei.
Die erste Wirkung ist die Erhebung unserer Natur und unseres Geschlechtes. Durch die Vermählung des Sohnes Gottes mit unserer Natur sind wir alle erhoben, geadelt und gleichsam vergöttlicht, Blutsverwandte Gottes geworden. Einer aus uns ist natürlicher und geborener Sohn Gottes – eine Ehre, die uns selbst den Engeln ehrwürdig macht. Er ist wohl ihr Herr und ihr Haupt, aber nicht ihr Bruder der Natur nach. In Christus ist unsere Natur über alle Ordnungen der himmlischen Hierarchie zur Rechten Gottes erhoben und teilt mit dem Vater und dem Heiligen Geist den Thron der Herrlichkeit selbst, und damit sind auch wir gleichsam in die Nähe des göttlichen Thrones versetzt.
Die zweite Wirkung ist die Bereicherung. Der Sohn Gottes besitzt das übernatürliche Leben, die Gnade und Glorie natürlich und Rechts wegen. Durch die Menschwerdung werden all diese Güter in unser Geschlecht verpflanzt, und es besitzt dieselben nun eigentumsmäßig und von Rechts wegen in Christus, und Gott schuldet sie uns infolge des huldreichen Ratschlusses der Menschwerdung und Erlösung, wenn wir unsererseits die Bedingungen erfüllen, die Christus gesetzt. Ja noch mehr, seine Verdienste sind unsere Verdienste, und wir können sie ansprechen nach Belieben. Christus ist nämlich nicht bloß unser Bruder, sondern unser Haupt; wir sind sein mystischer Leib, und wie Haupt und Glieder einander ihre Güter zuführen und austauschen, und wie die menschliche Natur in Christus, soweit es geschehen kann, teilnimmt an den Ehren undGütern der göttlichen Person und Natur, so tritt auch zwischen uns und Christus ein gegenseitiger Austausch der Güter ein, so daß wir teilhaben an der Kindschaft Gottes und am Propheten-, König- und Priestertum Christi. Ja selbst Gott gegenüber sind wir reich und mächtig geworden in Christus, indem er uns in den Stand setzt, Gott würdig zu ehren und anzubeten. In Christus und durch Christus können wir Gott eine Anbetung und Verherrlichung von unendlichem Wert bieten und all seinen Ansprüchen genügen. Und diese Verherrlichung gehört uns, sie geht von uns aus; denn Christus waltet dieses Amt der Verherrlichung Gottes durch uns und in unserer Natur.
Der dritte Vorteil, den uns die Menschwerdung bringt, ist ein süßer Trost und ein herzliches Vertrauen, das aus der Wahrheit entspringt, daß Christus wahrer Mensch ist und eine Natur hat wie wir. Er ist zwar auch Gott; allein das hindert nicht, daß er Mensch und ganzer Mensch ist, mit allem menschlichen Zubehör, die Sünde ausgenommen. Es ist wahr und unendlich süß, zu denken, daß er wahrer Mensch ist wie wir und daß wir ohne scheu uns ihm nahen dürfen und ihm alles mitteilen, was unserer Natur anhaftet. Er kennt alles, er hat alles erlebt, er ist geprüft worden in allem und war von Schwächen umgeben, damit er ein barmherziger Hoherpriester sei (Hebr. 5, 2). Nichts darf deshalb zwischen uns treten, keine Scheu, kein Gefühl des absoluten Abstandes und der Verschiedenartigkeit. Er ist kein fremdartiges, riesenhaftes Wesen, das wir bloß anbeten können, sondern uns ganz gleich und verwandt, so daß wir ihn lieben und mit Unbefangenheit und Vertraulichkeit umfassen können. Einfach als Menschen und seine Brüder können wir einer besonderen und unumschränkten Liebe seines Herzens versichert sein, wenn wir auch noch so armselig und sündhaft sind. Liebendes vertrauen in all unsern Nöten ist der schönste Vorteil und Segen dieses Geheimnisses und so recht der Ausklang der herrlichen Gesänge, mit denen die Propheten die Ankunft des Gottmenschen verkündeten (Is. 12).
aus: Moritz Meschler SJ, Das Leben unseres Herrn Jesu Christi des Sohnes Gottes, Bd. 1, 1912, S. 86-88