Betrachtung über die Andacht für die armen Seelen
Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn wir die Andacht für die armen Seelen gewissermaßen den Mittelpunkt nennen, worin alle katholischen Andachten zusammen treffen, und durch welche wir mehr als durch jede einzelne andere Andacht unsern Pflichten gegen Gott genügen und uns selbst große, geistige Schätze erwerben. Um dich zu ermuntern, freigebiger gegen die armen Seelen, diese Kinder Gottes, Schwestern Jesu Christi und Bräute des heiligen Geistes zu sein, beherzige nur zwei kostbare Vorteile.
1. Die Freude der triumphierenden und streitenden Kirche, deren Glied du durch die Gnade bist. Groß ist der Jubel im Himmel, so oft eine neu ankommende Seele die Zahl seiner Bewohner vermehrt. Denn wenn dort süßes Frohlocken alle Chöre der Seligen durchrauscht, so oft ein Sünder Buße tut, der doch wieder in die Sünde zurückfallen kann, wie groß wird erst die Freude über diesen neuen Mitbürger sein, der nicht mehr sündigen kann? Sein Schutzengel ist voll Freude und empfängt tausend Glückwünsche von den übrigen Engeln wegen des glücklichen Erfolges, den seine schützende Liebe erzielt hat. Nicht minder groß ist die Freude der Heiligen, deren Namen diese Seele getragen, deren Fürbitte sie angerufen, deren Tugenden sie nachgeahmt, deren Ehre sie befördert hat, sie ist die Freude ihrer Verwandten und Freunde, und in der Schar derjenigen, unter denen sie ewig ihren Platz haben wird. Und die Königin-Mutter, wie freut sie sich über die Ankunft des lieben Kindes, das sie unter dem Kreuz empfangen und nach vieljähriger Fürbitte jetzt selig an ihr Herz drücken kann, während Jesus sich freut über die schöne, reife Frucht seines kostbaren Blutes! Der heilige Geist freut sich über den Sieg seiner Gaben, Erleuchtungen und Tröstungen, und der ewige Vater hat ein inniges Wohlgefallen an der Schönheit seines Kindes, das von Ewigkeit her der Gegenstand seiner liebenden Sorge war. Auch die streitende Kirche nimmt Teil an dieser Freude: denn sie hat einen neuen Fürsprecher gewonnen. Und die Verwandten, Freunde, die Familie, die Gemeinde, das Vaterland dieser Seele haben noch einen besondern Grund zur Freude.
2. Deinen eigenen sehr großen Nutzen. Es ist deine wichtigste Pflicht Gott zu ehren, seine unendliche Majestät zu verherrlichen; aber wie traurig klein und gering ist deine Anbetung Gottes, wenn du auf dein Elend und deine Sündhaftigkeit siehst! Wie erhebend und süß ist dann der tröstende Gedanke, daß andere, daß Heilige, die du durch deine Almosen und Ablässe aus dem Fegefeuer erlöst hast, dieses dringende Werk für dich im Himmel tun, und vermöge ihrer Schönheit und Dankbarkeit besser tun, als du es jemals im Stande sein wirst! „Durch dein Bestreben, den armen Seelen Erleichterung zu verschaffen“, sagt so schön der hl. Franz voN Sales, „vollbringst du fast alle Werke der Barmherzigkeit. Oder heißt das nicht in der Tat Betrübte trösten, Kranken beistehen? Heißt das nicht, Gefangene besuchen, ihnen die Last ihrer Ketten erleichtern, sie befreien? Heißt das nicht Gastfreundschaft ausüben, wenn man diese Kinder Gottes in das Haus ihres himmlischen Vaters einführt? Du gibst Jemanden Kleider, der keine hat, du tust tust wohl daran; allein ist es nicht noch besser, diese leidenden Glieder Jesu Christi mit unsterblicher Herrlichkeit zu bekleiden?“ Und zudem noch besitzest du die Verheißung, daß dir Jesus Alles, was du in seinem Namen verlässest und hingibst, hundertfältig zurück zahlen und das ewige Leben als Zugabe darein geben wird.
O vergiß doch in deinem Gebet die armen Seelen nie! –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 818