Heiligenkalender
14. Mai
Die selige Juliana von Norwich, Mystikerin
(Freundlichkeit Gottes)
Hundert Jahre später, als die Juliana, von welcher im vorigen Monat erzählt worden ist (Hl. Juliana von Lüttich), lebte die Juliana von Norwich. Man würde heutigen Tages wahrscheinlich nichts mehr von ihr wissen, wenn nicht eine Schrift in englischer Sprache von ihr übrig wäre, worin sie besondere Offenbarungen nieder geschrieben hat. Diese Offenbarungen sind sehr schön und tröstlich, und ich werde keine eigenen Erläuterungen dazu machen, weil jede christliche Seele dieselben von selbst verstehen kann. Juliana war, wie sie selbst schreibt, eine einfältige ungelehrte Jungfrau, welche von Jugend auf mit großem Ernst Gott suchte. Sie betete vorzüglich um drei Gnaden: daß sie das Leiden Christi mehr inne werde, daß sie eine leibliche Krankheit bekomme und dadurch eifriger zu Gottes Ehre lebe, und daß sie ein inständiges Verlangen nach Gott bekomme. Als sie dreißig Jahre alt war, bekam sie eine schwere Krankheit und kam in einen sterbenden Zustand, so daß ihr die Sinne vergingen und sie vom Körper nichts mehr fühlte. Es war den 14. Mai, als sie in diesem Zustand ihre Offenbarungen bekam, wovon ich hier Einiges mit ihren Worten anführe.
„Plötzlich sah ich den Heiland und das rote Blut unter der Dornenkrone herab rinnen – warm und frisch und lebendig. Zugleich erfüllte die heilige Dreieinigkeit mein Herz mit großer Freude, und ich sagte: „Lobet den Herrn!“ Und ich sah auch ein geistliches Gesicht von seiner sehr leutseligen Liebe; ich sah, daß Er Alles ist, was nur gut ist, und das Gute, so alle Dinge haben, ist Er. Er ist unsere Kleidung, die uns vor Liebe einwickelt, umgibt, umhalst und uns ganz umschließt. Gleichwie der Leib eingehüllt ist in dem Kleid und das Fleisch in der Haut, so sind wir mit Seele und Leib eingehüllt und eingeschlossen in der Gutheit Gottes.
Unser guter Herr sagte, es sei ihm eine Freude, eine Glückseligkeit und ein unendliches Wohlgefallen, daß er seine Leiden für uns ausgestanden habe; und wenn er mehr hätte leiden müssen, er würde mehr gelitten haben. Der Vater hat ein besonderes Wohlgefallen an den taten, die Jesus zu unserer Erlösung verrichtet hat, und der Vater hat uns daher ihm zum Geschenk gegeben, so daß wir seine Belohnung und seine Krone sind. Und diese Krone achtet Jesus so hoch, daß er jeden tag bereit ist, dasselbe zu leiden für uns, wenn es notwendig wäre.
Mit fröhlichem Angesicht schaute unser guter Herr in seine Seitenwunde, und zeigte mir daselbst einen schönen freudevollen Platz, welcher weit genug war für alle Menschenkinder, welche selig werden und in Frieden und Liebe ruhen sollen. Und er zeigte mir sein gesegnetes Herz entzwei gespalten und seine unendliche Liebe, welche ohne Anfang gewesen, jetzt ist und ohne Ende sein wird – soweit es meine Seele fassen konnte, und sprach: „Sieh`, wie ich dich liebe!“
Jesus ist die wahre Mutter des Lebens; er gibt uns nicht Milch zu trinken, er nährt uns mit ihm selbst; er legt uns nicht an die Brust, sondern führt uns in seine offene Seite hinein und zeigt uns da die Freuden des Himmels. In unserer geistlichen Erziehung braucht der Herr große Zartheit. Er gängelt unsere Erkenntnis, er bereitet unsere Wege, er erleichtert unser Gewissen, er stärkt unsere Seele, er erleuchtet unser Herz, und gibt uns zum Teil zu erkennen und zu lieben seine hoch gesegnete Gottheit und macht, daß wir lieben Alles was er liebt, und daß wir wohl vergnügt sind mit ihm und mit allen seinen Werken.
Wenn wir in die Sünde schwerer fallen, dann denken wir, nun sei Alles nichts, was wir angefangen, und wir werden ganz kleinmütig. Aber Jesus will alsdann nicht, daß wir von ihm weg fliehen, denn kein Ding sieht er ungerner; sondern dann will er, daß wir es nach Kindesart machen sollen. Wenn das Kind übel zugerichtet und bang ist, dann läuft es geschwind zur Mutter; und wenn es sich nicht mehr helfen kann, dann schreit es mit aller Macht zur Mutter um Hilfe. So will Jesus, daß wir es machen und in der Seelennot zu ihm sprechen: „Liebe Mutter, erbarme dich meiner! Ich habe mich selbst verunreinigt und kann es nicht wieder zurecht bringen, als durch deine Hilfe und Gnade.“ Und so sollen wir in Wohl und Weh immer ein süßes Vertrauen behalten zu seiner Liebe. Die Flut seiner Barmherzigkeit, nämlich sein teuerwertes Blut, ist genugsam, uns rein und schön zu machen. Und es ist sein Amt und seine Glorie, uns selig zu machen – das sollen wir wissen; denn er will, daß wir ihn herzlich lieben, und sanft und stark auf ihn vertrauen.
Der Herr sprach weiter zu mir: „Bete entschlossen und innig, wenn es dir gleich dünkt, es schmecke dir nicht oder du könnest nicht; dennoch ist es dir sehr nützlich, ob du es gleich nicht fühlst. Denn in der Dürre und Magerkeit, in Krankheit und Schwachheit ist dein Gebet mir sehr angenehm, ob du gleich meinst, es schmecke dir nicht im Geringsten; und so ist dein ganzes Leben ein Gebet in meinen Augen.
Wenn die Seele versucht, verwirrt und in Unruhe ist, dann ist es besonders Zeit zu beten, damit sie beugsam und geschmeidig gegen Gott werde; denn er ist immerdar Ein und Derselbe in Liebe.
Nimmermehr kann es unserm Herrn gefallen, daß seine Diener zweifeln an seiner Gutheit. Die ehrerbietige Furcht gefällt Gott; diese ist aber sachte, und je mehr man von derselben hat, desto weniger wird sie gefühlt wegen Süßigkeit der Liebe. Liebe und Furcht sind Brüder. Wer liebt, fürchtet auch, doch fühlt er wenig von der Furcht. Alle andere Furcht, als diese ehrerbietige Furcht, wenn sie gleich käme unter dem schein der Heiligkeit, ist doch nicht so sicher. Die echte gute Furcht macht, daß wir eilends fliehen von Allem ab, was nicht gut ist, und fallen in den schoß unsers Herrn hinein, gleich wie ein Kind in die arme seiner Mutter, mit aller unserer Meinung und mit unserm ganzen Sinn, in Erkenntnis unserer Schwachheit und unserer großen Dürftigkeit, aber zugleich in Erkenntnis seiner ewigen Gutheit und seiner gesegneten Liebe, indem wir bloß allein unsere Erlösung in Ihm suchen, und kleben an ihm mit gläubigem Vertrauen. Die Furcht, welche solches in uns wirkt, die ist gut, freundlich und sicher; und was dem zuwider ist, ist entweder falsch oder mit Falschem vermengt.
Die größte Weisheit einer Seele ist, daß sie tue nach dem Willen und Rat ihres höchsten Freundes. Dieser gesegnete Freund ist Jesus. Er will, daß wir weder um Wohl noch um Weh von ihm fliehen. Der Feind aber will uns durch falsche Furcht zurück treiben von dem segensvollen Anschauen unseres ewigen Freundes. Alles, was der Liebe und dem Frieden zuwider ist, das ist vom Feind und seiner Partei. Wir haben es zwar von unserer Schwachheit und Torheit, daß wir fallen, aber von der Erbarmung und Gnade des hl. Geistes haben wir es, daß wir wieder aufstehen zu mehrerer Freude. Wenn nun gleich unser Feind etwas gewinnt durch unsern Fall, so verliert er manchmal mehr mit unserm Wiederaufstehen durch die Liebe und Demut.
In der Zeit dieses Lebens haben wir in uns eine wunderbare Vermischung von Wohl und Weh. Wir haben in uns unsern Herrn Jesum Christum auferstanden, und wir haben in uns das Elend und das Böse von Adams Fall und Tod. In dem Herrn wurde mir gezeigt das Mitleiden und Erbarmen über Adams Weh, und wurde mir auch gezeigt der hohe Adel und die unendliche Herrlichkeit, so den Menschen zugebracht ist durch die Kraft der Leiden und des Todes seines werten Sohnes. Und darum so erfreut er sich mächtig über diesen Fall wegen der hohen Aufhebung und Fülle der Seligkeit, so den Menschenkindern zugebracht ist, weit mehr als wir gehabt haben würden, wenn er nicht gefallen wäre. Und so haben wir Ursache zu trauern, weil unsere Sünde die Ursache gewesen von den Schmerzen Christi; und wir haben auch Ursache uns zu freuen wegen der unendlichen Liebe, so ihn leiden machte.
Unser guter Herr öffnete mit meine geistlichen Augen, und zeigte mir meine Seele in der Mitte meines Herzens. Ich sah die Seele so räumlich und weit, als wenn sie eine unendliche Welt und ein großes Königreich gewesen wäre.
Sie ist eine herrlichkeitsvolle Stadt, und in der Mitte dieser Stadt war unser Herr Jesus, wahrer Gott und wahrer Mensch, als eine schöne Person von länglicher Statur, der höchste Bischof, der größte Bischof, der größte König und der glorwürdigster Herr. Und ich sah ihn herrlich und feierlich gekleidet, sitzend in der Seele recht im frieden und Ruhe. Und er regiert, und in uns ist sein eigentliches Haus und seine unendliche Wohnung. Das höchste Licht und der hellste Glanz dieser Stadt ist die gloriose Liebe des Herrn unseres Gottes. Was kann uns mehr erfreuen, als wenn wir sehen, daß er sich in uns auf das höchste erfreut, mehr als in allen seinen Werken. Er machte die Seele des Menschen so schön, so gut, so kostbar, als er nur ein Geschöpf machen konnte. Und er will, daß unsere Herzen mächtig erhaben sein sollen über die Niedrigkeit der Erde und alle eitlen Bekümmernisse, um uns in ihm zu erfreuen.
Wie ich nun dieses Alles mit Andacht gesehen hatte, da zeigte mir unser guter Herr sehr sanftmütig diese Worte und zwar ohne Stimme oder Eröffnung der Lippen und sagte ganz süß: „Wisse es nun wohl, daß es kein Traum gewesen, was du jetzt gesehen hast; sondern nimm es an und glaube es, und bewahre dich darin, und stärke dich damit, uns tröste dich dadurch; und du wirst nicht überwunden werden. All` dieses Leben und alle Not auf Erden ist nur eine Nadelspitze; und wenn der Mensch in die Seligkeit genommen wird, dann ist der Schmerz nichts mehr.“ –
Es ist dieses nur ein kleiner Teil von dem, was diese fromme Seele gesehen, gefühlt und gelebt hat. Aber schon daraus magst du ahnen, wie schön und menschenfreundlich Gott ist. Es wird zwar in der hl. Schrift auch von großen Strafgerichten erzählt, und der Apostel schreibt: „Es ist schrecklich in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“ – allein dieses ist er nur für den Sünder, wie die Sonne für die Nachtvögel und für kranke entzündete Augen eine Qual ist, während sie doch für die ganze Erde die Quelle aller Schönheit und alles Gedeihens und Lebens ist. Werde du selber gut und gesund an der Seele, dann wirst du mehr und mehr inne werden, wie unendlich süß und lieb und gut Gott ist, daß zuletzt gar nichts gut ist und der Seele in die Länge schmeckt, als Gott. Darum sagte auch Juliana: „Ich lernte, daß unsere Seele nicht eher Ruhe haben werde, bis daß sie gelange in Ihn, weil ich erkannte, daß Er ist die Vollheit der Freude, liebreich und freundlich, voll Segens und das wahre Leben!“ –
aus: Alban Stolz, Legende oder der christliche Sternhimmel, Bd. 2 April bis Juni, 1872, S. 212 – S. 216