Jesus Christus die große Frage oder Jesus Christus das Kernproblem der Welt
I.
Vom altchristlichen Dichter Sedulius, der im fünften Jahrhundert lebte und vor allem durch sein „Paschale Carmen“ bekannt ist, haben wir den Christushymnus, der den Namen „Elegia“ trägt und aus 55 Distichen besteht. In einem dieser Distichen nennt er Christus die „Maxima quaestio mundi“, die große Frage oder das Kernproblem der Welt. Auch einem oberflächlichen Betrachter der Geschichte der beiden vergangenen Jahrtausende dürfte klar sein, dass es sich bei Christus um ein Phänomen handelt, dem kein anderes zu vergleichen ist, um eine Persönlichkeit, deren Einfluss auf die Menschheit voller Rätsel ist, um einen Menschen, an Dem niemand vorbeigehen kann und Der so ganz aus der Reihe der anderen Menschen herausfällt. Bisher ging noch kein Mensch durch die Welt, der einen so gewaltigen und so rätselhaften Einfluss auf die Menschen ausübte. Über keinen Menschen sind jemals so viele Bände, ja ganze Bibliotheken geschrieben worden und über keinen wurde und wird so viele geredet wie über Ihn. Keiner von den großen Gelehrten, kein Dichter, kein Politiker, kein Industrieller, kein Kaufmann, kein Bauer, kein Handwerker, kein Arbeiter konnte und kann an diesem Menschen vorüber gehen, denn jedem geht Er einmal über den Weg. Die einen bejahen ihn, die anderen verneinen Ihn, die einen setzen sich mit der Kraft ihrer ganzen Persönlichkeit für Ihn ein und die anderen bekämpfen Ihn bis aufs Blut.
Niemand kann gleichgültig an ihm vorübergehen. Er ist wirklich das Herz der Welt, die Mitte der Welt, das Kernproblem der Welt, die „maxima quaestio mundi“.
In unserer Seckauer Bibliothek hängt ein Kreuz mit einer Inschrift darüber, die aus der Geheimen Offenbarung des Johannes genommen und auf Christus angewendet ist und die besagt, Er sei das „von außen wie von innen beschriebene Buch“, um dadurch anzudeuten, daß Er mit menschlichen Worten nie ganz erfaßt werden kann.
Dem Bergsteiger eröffnen sich, je höher er steigt, immer neue Horizonte, und dem, der sich mit Christus auseinander setzt, geht es genau so: er entdeckt immer wieder neue Ausblicke, immer neue Welten gehen ihm auf, wenn das Wesen dieses Menschen erklären und zu erfassen versucht.
Gehe ich von der Voraussetzung aus, dass dieser Mensch Christus nur ein Mensch war, ein Mensch wie die anderen auch, dann bleibt Er ein unlösbares Rätsel, eine Frage ohne Antwort, ein religiöses psychologisches und ein historisches Problem. Gehe ich aber von der Voraussetzung aus, dass dieser Christus mehr als ein gewöhnlicher Mensch, dass Er der persönliche Gott war, dann bleibt Er auf einmal nicht mehr die „maxima quaestio mundi“, das Kernproblem und die große Frage, sondern dann entwirrt sich wie von selbst das Knäuel aller Fragen um Ihn, dann wird Er zur Antwort aller wesentlichen Fragen der Weltordnung, dann wird Er zu einem Felsen, auf dem einer sicher steht, dann ist Er nicht die „maxima quaestio mundi“, sondern die Lösung aller Fragen.
Aus diesen einleitenden Worten ist ersichtlich, dass es bei Christus letzten Endes um die Frage dreht: War Er Gott oder war Er es nicht, war Er nur ein Mensch oder war Er mehr als ein Mensch? –
aus: Benedikt Reetz, Christus, die große Frage, Vortrag gehalten vor der Gemeinschaft der katholischen Akademiker in Graz am 8. Mai 1946, S. 7 – S. 8