Über Fürbitte und Anrufung der armen Seelen
Die armen Seelen können für andere Glieder des mystischen Leibes fürbitten. Sent. probabilis.
Da die armen Seelen Glieder des mystischen Leibes Christi sind, so ist die Frage, ob sie für andere arme Seelen oder für die Gläubigen auf Erden fürbitten können, wohl zu bejahen. Konsequenter Weise muss man mit Fr. Suarez und R. Bellarmin auch zugeben, daß es möglich und erlaubt ist, die armen Seelen im ihre Fürbitte anzurufen.
Die Provinzialsynoden von Wien (1858) und Utrecht (1865) lehren, daß uns die armen Seelen durch ihre Fürbitten helfen (Coll. Lac. V 191, 869). Leo XIII. bestätigte 1889 ein Ablassgebet, in welchem die armen Seelen um ihre Hilfe in Gefahren des Leibes und der Seele angerufen werden (ASS 22, 743 f). (In die authentischen Sammlungen von 1937 und 1950 ist das Gebet nicht aufgenommen.)
Thomas macht gegen die Fürbitte und Anrufung der armen Seelen geltend, daß sie von den Gebeten der Gläubigen auf Erden keine Kenntnis besitzen und daß ihnen wegen ihres Strafzustandes die Annahme ihrer Fürbitte versagt ist: secundum hoc (sc. quantum ad poenas) non sunt in statu orandi, sed magis ut oretur pro eis (S. th. 2 II 83, 11 ad 3; vgl. 2 II 83, 4 ad 3). Da jedoch die Kirche die im Volk verbreitete und von vielen Theologen befürwortete Anrufung der armen Seelen nie missbilligt hat – die Abrogierung des erwähnten Ablass-Gebetes muss nicht als Missbilligung aufgefaßt werden -, ist an der Möglichkeit und Erlaubtheit derselben nicht zu zweifeln. Von den Anrufungen der Gläubigen können die armen Seelen durch göttliche Offenbarung Kenntnis erhalten. Ein Kult der armen Seelen ist nicht statthaft.
Anhang: Suffragien für die Verdammten?
Den Verdammten in der Hölle nützen die Suffragien nichts, da sie nicht zum mystischen Leib Christi gehören. Sent. communis.
Der hl. Augustin rechnete mit der Möglichkeit, daß die für die Verstorbenen verrichteten Suffragien den Verdammten, soweit sie nicht ganz schlecht sind (non valde mali), eine Erleichterung ihrer Strafe bringen: „Welchen diese Opfer (des Altares und der Almosen) nützen, denen nützen sie so, daß die Verzeihung eine vollständige ist oder daß gar die Verdammnis selbst eine erträglichere wird“ (aut certe ut tolerabilior fiat ipsa damantio; Enchir. 110). Das Psalmwort 76, 10, wonach Gott auch in seinem Zorn seine Barmherzigkeit nicht zurück hält, kann nach Augustin so verstanden werden, „daß er zwar der ewigen Pein kein Ende macht, wohl aber die Qualen zeitweise lindert oder unterbricht (non aeterno supplisio finem dando, sed levamen adhibendo vel interponendo cruciatibus; Enchir. 112). Nach Gregor dem Großen ist das Gebet für die Verdammten „in den Augen des gerechten Richters wertlos“ (Dial. IV 44; Moralia XXXIV 19, 38). Die Theologen der Frühscholastik folgen meist Augustin. In liturgischen Büchern des frühen Mittelalters findet sich sogar eine missa pro defuncto, de cuius anima dubitatur oder desperatur. In den Messgebeten wird um Erleichterung der Höllenqualen gebetet, falls der Betreffende wegen der Schwere seiner Vergehen nicht zur Herrlichkeit gelangen kann.
Der hl. Thomas lehrt im Anschluss an Gregor, daß die Suffragien den Verdammten nichts nützen und daß die Kirche nicht beabsichtigt, für sie zu beten. Suppl. 71, 5. –
aus: Ludwig Ott, Grundriss der Dogmatik, 1954, S. 373 – S. 374