Das Gewissen
Zweites Kapitel: Die verpflichtende Kraft des Gewissens
I. Dem sicheren Gewissen muss man immer folgen, wenn es etwas befiehlt oder verbietet.
Dies gilt sowohl für das wahre als das falsche Gewissen. – Wer daher lügt in der Überzeugung, es sei eine Liebespflicht, dem Nächsten durch eine Lüge aus der Not zu helfen, setzt einen verdienstlichen Akt der Nächstenliebe; würde er seinem falschen Gewissen entgegen handeln, so würde er sündigen. Wer glaubt, es sei heute Abstinenztag, der sündigt, wenn er trotzdem Fleisch ißt, obwohl in Wirklichkeit kein Abstinenztag ist. Wer aber gegen ein irriges Gewissen handelt, inkurriert nicht die Strafen, welche ipso facto auf die Übertretung des Gesetzes gesetzt sind. Wer daher einen Laien schlägt in der Meinung, er sei ein Kleriker, hat zwar ein Sakrileg begangen, aber er hat sich die Exkommunikation nicht zugezogen. – Was aber unmöglich gemieden werden kann, ist keine Sünde, auch wenn man infolge eines irrigen Gewissens meint, schwer zu sündigen. Wenn es daher z. B. einen Gefangenen unmöglich ist, am Sonntag eine Messe zu hören, so sündigt er nicht, auch wenn er meint, eine Todsünde zu begehen.
Erlaubt das sichere Gewissen eine Handlung, so darf man ihm immer folgen; wer daher am Freitag Fleisch ißt in der Überzeugung, es sei erst Donnerstag, der sündigt nicht.
II. Mit einem praktischen Zweifel an der Erlaubtheit einer Tat darf man niemals handeln.
Über den Unterschied zwischen dem praktischen und spekulativen Zweifel vgl. Nr. 85. – Wenn ein Jäger zweifelt, ob das, worauf er schießt, ein Tier oder ein Mensch sei, so sündigt er durch Mord, auch wenn es sich nachher zeigt, daß er ein Stück Wild erlegt hat. – Um unvernünftige Zweifel aber braucht man sich selbstverständlich nicht zu kümmern. Wer daher mit seinem Auto jemand tot gefahren hat, obwohl er alle vorgeschriebenen Vorsichts-Maßregeln gebrauchte, hat nicht gesündigt, auch wenn ihm manchmal der Gedanke kam, bei seinen Autofahrten könnte er einmal jemanden töten.
Von dem praktisch wahrscheinlichen Gewissen gilt dasselbe wie vom praktischen Zweifel.
III. Bei einem perplexen Gewissen muss man das tun, was einem als die geringere Sünde erscheint. Hält man beides für gleich sündhaft, so kann man, ohne zu sündigen, wählen, was man will.
Der Grund liegt darin, daß bei Unmöglichkeit auch keine Sünde vorliegt. Vorausgesetzt ist aber, daß man die Handlung ohne großen Schaden nicht verschieben kann und daher keine Mittel hat, sich ein richtiges Gewissen zu bilden.
IV. Einem laxen Gewissen zu folgen ist gewöhnlich eine schwere Sünde, wenn man dabei ein schwer verpflichtendes Gebot übertritt.
Der Grund liegt darin, daß ein derartiges Gewissen gewöhnlich als ein verschuldet irriges Gewissen betrachtet werden muss. Ein solcher Mensch muss auch viel leichter als andere aufsteigende Bedenken beachten und kann sie nicht so leicht als Skrupel verachten. – In Ausnahmefällen aber kann auch ein solcher von einer schweren Sünde entschuldigt sein, wenn er sich nämlich seines Gewissens-Zustandes nicht bewußt ist und nicht einmal im allgemeinen die Bosheit der Handlung oder die Pflicht einer näheren Untersuchung erkennt.
V. Gegen ein skrupulöses Gewissen zu handeln ist keine Sünde, auch dann nicht, wenn man die Handlung setzt mit der großen Furcht, zu sündigen.
Das skrupulöse Gewissen ist nämlich eigentlich nur ein Angstzustand. – Der aufgestellte Grundsatz gilt auch, wenn der Skrupulant im Augenblick nicht daran gedacht hat, es sei ein bloßer Skrupel; es genügt, wenn er habituell weiß, es sei ihm alles erlaubt, was er nicht sicher als Sünde erkennt. – Erlaubt ist dem Skrupulanten alles, was er gottesfürchtige Leute tun sieht, auch wenn es gegen seine eigene Meinung ist; bei seinen Handlungen braucht er auch nur eine recht mittelmäßige Sorgfalt anzuwenden; wenn er niemand um Rat fragen kann, darf er tun, was er will, außer es handle sich offenbar und sicher um eine Sünde. Wegen großen Schadens kann der Skrupulant auch von vielen positiven Verpflichtungen entschuldigt sein, wie z. B. von der brüderlichen Zurechtweisung, von der Integrität der Beichte. Wenn beim Anschauen von unschuldigen Gegenständen und Personen unreine Gedanken entstehen, so schaue er diese Gegenstände fest, Personen aber in ehrbarer Weise an und kümmere sich um solche Regungen nicht. Bei Skrupeln, ob er seine Pflicht bereits erfüllt habe (z. B. Breviergebet, Buße, Gelübde), darf er annehmen, daß er seiner Pflicht Genüge getan habe. Bei einem Skrupel, ob die Reue genügend sei, darf er zu seinen Gunsten entscheiden; Sünden, die vor der letzten Beichte begangen wurden, braucht er nicht zu beichten, außer er könnte schwören, daß er dabei sicher schwer gesündigt und es sicher noch nicht gebeichtet habe; aber auch in letzterem Falle können Umstände eintreten, die ihn von der Integrität der Beichte entschuldigen. Dasselbe gilt bei Bedenken über die Gültigkeit der früheren Beichten. – Skrupulanten, welche Angstgefühle (Präkordialangst) mit Gewissensbissen verwechseln, mache man darauf aufmerksam, daß die Ursache dieser Angst die Nerven und nicht etwaige Sünden sind.
Es besteht sogar die Pflicht gegen die Skrupel zu handeln, weil man sonst sündigt durch Stolz, Eigensinn, Ungehorsam, oder weil Leib und Seele oder der Beruf Schaden leidet. Hat aber der Skrupulant guten Willen, so wird im Einzelfall nicht leicht eine schwere Sünde begangen. Wegen der erwähnten Nachteile gestatte auch der Beichtvater nur einmal eine vollständige Darlegung der Skrupel oder eine Generalbeichte; selbst diese einmalige Darlegung des Gewissens-Zustandes ist zu untersagen, wenn der Skrupulant kurz vorher einem anderen Beichtvater einen derartigen Einblick gestattete und voraussichtlich jetzt auch nicht für lange Zeit bei diesem neuen Beichtvater bleibt. –
aus: Heribert Jone OMCap, Katholische Moraltheologie, 1931, S. 58 – S. 61