Die Lehre von der Gnade Begriff und Einteilung

Die Lehre von der Gnade

Von der Gnade im allgemeinen

§ 1. Die subjektive Erlösung im allgemeinen

Der Gottmensch Jesus Christus hat durch seine stellvertretende Genugtuung und sein Erlösungs-Verdienst die Wiederversöhnung der Menschheit mit Gott prinzipiell und objektiv vollzogen. Die objektive Erlösung muss vom einzelnen Menschen in der subjektiven Erlösung ergriffen und angeeignet werden. Den Akt der Zuwendung der Erlösungs-Frucht an den einzelnen Menschen nennt man Rechtfertigung oder Heiligung. Die Erlösungs-Frucht selbst bezeichnet man als Gnade Christi.
Das Prinzip der subjektiven Erlösung ist der dreieinige Gott. Als Werk der göttlichen Liebe wird die Gnaden-Mitteilung dem Hl. Geist, der persönlichen göttlichen Liebe, zugeeignet, obwohl sie von den drei Personen gemeinsam bewirkt wird. Die subjektive Erlösung ist aber nicht allein Gottes Werk, sondern verlangt entsprechend der Eigenart der mit Vernunft und Freiheit ausgestatteten menschlichen Natur die freie Mitwirkung des Menschen (D799). In dem innigen Zusammenwirken und Ineinandergreifen göttlicher Kraft und menschlicher Freiheit liegt das unergründliche Geheimnis der Gnadenlehre. Alle Kontroversen und Häresien der Gnadenlehre haben hier ihren Ausgangspunkt.
Auf dem Weg zur subjektiven Erlösung unterstützt Gott den Menschen nicht bloß durch ein inneres Prinzip, die Kraft der Gnade, sondern auch durch ein äußeres Prinzip, die Wirksamkeit der Kirche in Lehre, Leitung und Ausspendung der Gnade Christi in den Sakramenten. Das Ziel der subjektiven Erlösung ist die ewige Vollendung in der beseligenden Gottanschauung.

§ 2. Der Begriff der Gnade

1. Sprachgebrauch der hl. Schrift

Unter Gnade versteht man nach dem Sprachgebrauch der hl. Schrift:
a) im subjektiven Sinn die Gesinnung der Herablassung, des Wohlwollens einer höher gestellten Person gegenüber einer niedriger gestellten, insbesondere Gottes gegenüber dem Menschen (gratia = benevolentia). Vgl. Gn. 30,27; Lk. 1,30.
b) im objektiven Sinn die aus der wohlwollenden Gesinnung hervorgehende ungeschuldete Gabe (gratia = beneficium oder donum gratis datum). Die Gabe als solche ist das materielle Element, das Fehlen jeglichen Anspruchesoder die Gratuität das formelle Element. Vgl. Röm. 11,6.
c) Anmut, Liebreiz. Vgl. Ps. 44,3; Spr. 31,30.
d) Dank für empfangene Wohltaten.

2. Theologischer Sprachgebrauch

Der theologische Sprachgebrauch nimmt das Wort Gnade im objektiven Sinn und versteht darunter eine von Seiten Gottes ungeschuldete, von Seiten des Menschen unverdiente Gabe. In diesem weiteren Sinn kann man auch von einer natürlichen Gnade sprechen (z. B. die Schöpfung, Gaben der natürlichen Ordnung wie Gesundheit des Körpers und des Geistes).
Im engeren und eigentlichen Sinn versteht man unter Gnade eine übernatürliche Gabe, die Gott einem vernünftigen Geschöpf aus freiem Wohlwollen zum ewigen Heile verleiht: donum supernaturale gratis a Deo creaturae rationali concessum in ordine ad vitam aeternum. Dazu gehören vor allem die dona supernaturalia quoad substantiam, die in ihrem inneren Wesen über das Sein, die Kräfte und die Ansprüche der geschaffenen Natur hinazsgehen (die heiligmachende Gnade, die eingegossenen Tugenden, die Gaben des hl. Geistes, die aktuelle Gnade, die beseligende Gottanschauung), sodann die dona supernaturalia quoad modum, die in der Art und Weise der Hervorbringung das natürliche Vermögen des betreffenden Geschöpfes übersteigen (wunderbare Heilung, Sprachengabe, Gabe der Weissagung) und die dona praeternaturalia, die die menschliche Natur innerhalb ihrer eigenen Ordnung vervollkommnen (Freiheit von der Begierlichkeit, von Leiden und Tod).

3. Ursachen der Gnade

Die causa efficiens princioalis der Gnade ist der dreieinige Gott, causa efficiens instrumentalis die Menschheit Christi und die Sakrtamente, causa meritoria der an die gefallene Menschheit gespendeten Gnade der Gottmensch Jesus Christus auf Grund seines Erlöser-Wirkens, causa finalis primaria die Verherrlichung Gottes, causa finalis secundaria das ewige Heil des Menschen.

§ 3. Die Einteilung der Gnade

1. Gratia increata – gratia creata

Die ungeschaffene Gnade ist Gott selbst, insofern er in seiner Liebe von Ewigkeit her die Gnadengaben voraus bestimmt hat, insofern er sich in der Menschwerdung der Menschheit Christi mitgeteilt hat (gratia unionis), insofern er den Seelen der Gerechtfertigten inne wohnt und insofern er sich den Seligen zum Besitz und Genuß hingibt in der beseligenden Gottanschauung. Der Akt der hypostatischen Union, der Einwohnung und der beseligenden Gottanschauung ist zwar eine geschaffene Gnade, da er einen zeitlichen Anfang hat; ungeschaffen ist jedoch die Gabe, die in diesen Akten einem Geschöpf verliehen wird. – Die geschaffene Gnade ist eine von Gott verschiedene übernatürliche Gabe oder Wirkung Gottes.

2. Gratia Dei (Creatoris, Conditoris, Gnade des Urzustandes) – gratia Christi (Redemptoris, Salvatoris, Gnade der gefallenen Natur).

Die Gnade Gottes oder des Schöpfers ist die Gnade, die Gott aus dem einzigen Motiv der Liebe den Engeln und den Stammeltern im Paradiese, die infolge ihrer Sündelosigkeit für den Empfang der Gnade nur negativ unwürdig waren (non digni), ohne Rücksicht auf das Verdienst Christi verliehen hat. – Die Gnade Christi oder des Erlösers ist die Gnade, die Gott aus dem doppelten Motiv der Liebe und der Barmherzigkeit den gefallenen Menschen, die infolge der Sünde für den Empfang der Gnade positiv umwürdig sind (indigni), im Hinblick auf das Erlösungs-Verdienst Christi verliehen hat und verleiht. Sowohl die Gnade Gottes als auch die Gnade Christi erhebt den Empfänger in die übernatürliche Ordnung des Seins und Tätigseins (gratia elevans), die Gnade Christi hat aber außerdem die Aufgabe, die von der Sünde geschlagenen Wunden zu heilen (gratia elevans et sanans oder medicinalis).
Ausgehend von der Annahme der absoluten Prädestination der Menschwerdung des Gottessohnes betrachten die Skotisten auch die Gnade der Engel und der Stammeltern im Paradiese als Gnade Christi, jedoch nicht insofern er Erlöser ist (gratia Christi tamquam redemptoris), sondern insofern er das Haupt der ganzen Schöpfung ist (gratia Christi tamquam capitis omnis creaturae).

3. Gratia externa – gratia interna

Die äußere Gnade ist irgendeine Wohltat Gottes zum Heile der Menschen, die außerhalb des Menschen ist und moralisch auf ihn einwirkt, z. B. Offenbarung, Lehre und Beispiel Christi, Predigt, Liturgie, Sakramente, Tugendbeispiel der Heiligen. – Die innere Gnade erfaßt die Seele und ihre Kräfte innerlich und wirkt physisch auf sie ein, z. B. die heiligmachende Gnade, die eingegossenen Tugenden, die aktuelle Gnade. Die äußere Gnade ist auf die innere Gnade als ihr Ziel hingeordnet. Vgl. 1. Kor. 3,6.

4. Gratia gratis data – gratia gratum faciens

Obwohl jede Gnade ein freies Geschenk der göttlichen Güte ist, so versteht man unter gratia gratis data im Anschluß an Mt. 10,8 (gratis accepistis, gratis date) in einem engeren Sinn jene Gnade, die einzelnen Personen zum Heile anderer verliehen wird. Dazu gehören die außerordentlichen Gnadengaben (Charismen, z.B. Prophetie, Wundergabe, Sprachengabe; vgl. 1. Kor. 12,8ff) und die ordentlichen Vollmachten der Weihegewalt und der Jurisdiktions-Gewalt. Der Besitz dieser Gaben ist von der persönlichen sittlichen Beschaffenheit ihres Inhabers unabhängig (vgl. Mt. 7,22f; Joh. 11,49-52). – Die gratia gratum faciens oder Heiligungs-Gnade ist für alle Menschen bestimmt und wird zur persönlichen Heiligung verliehen. Sie macht den Empfänger vor Gott wohlgefälig (gratum), indem sie ihn entweder formell heiligt (heiligmachende Gnade) oder auf die Heiligung vorbereitet, sie bewahrt und vermehrt (aktuelle Gnade). Die gratia gratum faciens ist das Ziel der gratia gratis data und is darum innerlich erhabener und wertvoller als diese. Vgl. 1.Kor. 12,31ff.

5. Gratia habitualis (sanctificans) – gratia actualis

Die gratia gratum faciens oder Heiligungs-Gnade umfaßt die gratia habitualis und die gratia actualis. Die habituelle Gnade ist eine dauernde übernatürliche Beschaffenheit der Seele, die den Menschen innerlich heilig, gerecht und Gott wohl gefällig macht (heiligmachende Gnade oder rechtfertigende Gnade). – Die aktuelle Gnade oder Beistands-Gnade oder helfende Gnade ist eine vorübergehende übernatürliche Einwirkung Gottes auf die Seelenkräfte zur Verrichtung eines Heilsaktes, der entweder die Erlangung der heiligmachenden Gnade oder deren Erhaltung und Vermehrung bezweckt.

6. Die gratia actualis wird unterschieden:

a) nach den von ihr ergriffenen Seelenpotenzen in eine Verstandes-Gnade und eine Willens-Gnade oder nach ihrer Wirkung in eine Erleuchtungs-Gnade (gratia illuminationis) und eine Stärkungs-Gnade (gr. Inspirationis).
b) nach ihrem Verhältnis zur freien Willenstätigkeit des Menschen in eine der freien Entscheidung des Willens zuvorkommende Gnade (gratia praeveniens, antecedens, excitans, vocans, operans) und eine die Tätigkeit des freien Willens unterstützende und begleitende Gnade (gratia subsequens, adiuvans, concomitans, cooperans).
c) nach ihrer Wirkung in eine hinreichende Gnade (gratia sufficiens) und eine wirksame Gnade (gratia efficax). Erstere gibt die Befähigung zum Heilsakt, letztere führt den Heilsakt wirklich herbei. –
aus: Ludwig Ott, Grundriss der katholischen Dogmatik, 1954, S. 253 – S. 256

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