„Vergiß nicht die Schmerzen deiner Mutter.“
Über die Größe der Leiden Mariens
Um die Größe der Leiden Mariä zu ermessen, müssten wir, wie Maria, die Leiden Christi erkennen, und diese Leiden mitfühlen, wie sie das Mutterherz Mariä mitgefühlt hat; Beides aber ist für uns unmöglich; somit bleibt für uns, wie das Leiden Christi, so auch das Leiden Mariä ein undurchdringliches, unbegreifliches Geheimnis. Der heilige Laurentius Justinianus gebraucht, um die Schmerzen Mariä einigermaßen zum Ausdruck zu bringen, und uns anschaulich zu machen, folgende Worte: „Das Herz Mariä ist der hellste Spiegel des Leidens (Christi), und das vollkommenste Bild seines Todes geworden.“ (De triumphal. Christ. Agon.)
Sind der Leiden, die uns drücken, geliebte Christen! auch viele, sind sie auch groß und schwer und bitter; so werden sie doch niemals den Leiden Mariä gleichkommen, und weder in der Menge, noch in der Vielseitigkeit, noch in der Schwere, noch in der Bitterkeit denselben ähnlich sein. Wenn und uns daher Mutlosigkeit beschleicht, oder Überdruß anwandelt, oder Ungeduld reizt, oder Murren und Klagen fortzureißen drohen; erinnern wir uns der übergroßen und unbeschreiblichen Schmerzen unserer himmlischen Mutter, und harren wir ergeben und standhaft aus.
„Vergiß nicht die Schmerzen deiner Mutter.“
Die Leiden des Sohnes sind auch die Leiden der Mutter, inwiefern dieselben zu ihrer Erkenntnis kommen; welche Mutter kennt aber die Leiden ihres Sohnes besser, als Maria die Leiden ihres göttlichen Sohnes gekannt hat? Wo gibt es eine Mutter und einen Sohn, die sich inniger lieben, als Maria und ihr göttlicher Sohn sich geliebt haben? Wo gibt es eine Mutter, wie die Mutter Gottes, und wo einen Sohn, wie den Sohn Gottes? Wo gibt es also auch ein Leiden, wie das Leiden der Mutter Gottes, und wie das Leiden des Sohnes Gottes?
Daher sagt der heilige Laurentius Justinianus: „Daß das Martyrium anderer Heiligen nicht so bitter war (wie das der allerseligsten Jungfrau) liegt ganz offen am Tage. Es hat niemals einen solchen Sohn gegeben, es hat niemals eine solche Mutter gegeben; es hat niemals eine solche Liebe gegeben, wie zwischen dieser Mutter und diesem Sohn; es hat niemals einen solchen Schmerz (wie den dieser Mutter) gegeben; denn diese Mutter wußte, was dieser für ein Sohn war, woher und wie sie ihn empfangen hatte, und alles Andere dergleichen; und daher ist sie auch, je inniger sie ihn liebte, desto tiefer verwundet worden.“ (De laudib. Virg. Libr. 3)
Denn der Schmerz ist so groß, als die Liebe; nun aber ist keine Liebe so groß, als die Mutterliebe, und keine Mutterliebe so groß, als die Mutterliebe Mariä zu ihrem göttlichen Sohn; somit war auch niemals ein schmerz so groß, als der Schmerz Mariä. Daher schreibt der heilige Bonaventura: „Kein Schmerz ist bitterer (als der Schmerz Mariä), weil es kein geliebteres Kind gab“ (als ihr göttliches Kind)“ (In Offic. De Pass.); und der heilige Ildephonsus sagt: „Maria war mehr als eine Märtyrerin; weil sie nicht minder von dem Schwert der Liebe, als von dem Schwert des Schmerzes verwundet worden ist.“ (Serm. 2. de Assumpt. B.M.V.) Von dieser Liebe und von diesem Schmerz dieser Mutter und dieses Sohnes sagt der heilige Bernardus, daß sie in einander flossen, und schreibt: „O unaussprechliche Wechselseitigkeit der heiligen Liebe! Der Sohn leidet, und leidet innerlich auch das Leiden der Mutter; die Mutter aber leidet das Leiden des Sohnes mit. So groß war nämlich die Gewalt des Leidens des Herrn Jesus, daß es wie ein Sturzbach den Leidenden erfüllte, und überströmte, weil Christus nach dem Zeugnis des Psalmisten aus dem Bach, seines Leidens nämlich, am Weg getrunken hat (Ps. 109, 7); daß es, nachdem Christus davon erfüllt war, auf die mitleidende Mutter überströmte, und daß, nachdem auch sie erfüllt war, die Überströmung der Bitterkeit und des Schmerzes sich wieder auf den Sohn zurück ergoß.“ (Homil. In Evang. Stabat.)
Wer kann diese Geheimnisse begreifen oder erfassen? Eines aber muss uns nach allem dem klar sein, nämlich, daß, wie Christus, der Herr, der König der Märtyrer ist, auch seine hochgebenedeite Mutter von der heiligen Kirche mit allem Recht als „die Königin der Märtyrer“ (Litan. Lauret.) begrüßt, gepriesen und angerufen zu werden verdient.
Welcher Trost für uns, geliebte Christen! Wenn auch uns schwere Leiden drücken; denn sie sind nicht Zeichen, daß Gott uns zürne, sondern, daß er uns liebe, wie er ja auch seinen geliebtesten Sohn und dessen geliebteste Mutter Solches leiden ließ, um sie mit der höchsten Herrlichkeit und Seligkeit zu krönen. Daher sagt der heilige Ambrosius: „Nimm die Kämpfe der Märtyrer hinweg, und du hast ihnen die Krone genommen; nimm die Leiden weg, und du hast die Seligkeit genommen.“ (Libr. IV. super Luc. c. VI. in illud: Diabolus recessit ab illo.) Würden die Leiden aber auch Strafen sein, so wäre es Liebe und zugleich Barmherzigkeit Gottes, der us bessern und selig machen will; daher sagt der heilige Papst Gregorius: „Gerecht ist Alles, was wir leiden; aber sehr ungerecht ist es, wenn wir über gerechtes Leiden murren.“ (Libr. Moral. II. c. 13 v. 18) Blicken wir auf das Martyrium Mariä.
„Vergiss nicht die Schmerzen deiner Mutter.“
Dieses Martyrium der allerseligsten Jungfrau war nicht bloß unbegreiflich groß wegen der unerforschlichen Größe der Schmerzen, die es in sich faßte, sondern auch wegen der Mannigfaltigkeit der Peinen, über welche es sich ausbreitete. Denn hat Maria die Leiden ihres göttlichen Sohnes mitgelitten, so hat sie auch alle Gattungen von Leiden, die er erduldet, mit ihm erduldet. Nun aber lehrt der heilige Thomas von Aquin, und weist es nach, daß Christus, der Herr, alle Gattungen von Leiden, die er auf sich nehmen konnte, erduldet habe. (P. III. q. 46, a. 5)
Somit müssen wir annehmen, daß alle diese Gattungen von leiden sich auch in das liebende Herz seiner mit ihm leidenden Mutter ergossen haben. Daher legt die heilige Kirche jene Worte, welche der Sohn Gottes durch den Mund seines Propheten von sich selbst gesprochen hat, auch Mariä (Offic. 7 dolor. Dom. III Septemb. R. br. Ad Tert.) in den Mund: „O, ihr Alle, die ihr vorüber geht am Wege, gebt Acht, und seht, ob es einen Schmerz gebe, wie mein Schmerz ist!“ (Thren. c. I. v. 12) Wenn wir das Leben und das Leiden des Herrn in allen Einzelheiten betrachten, und nebenbei auf Maria blicken; so finden wir, daß alle Leiden der Armut und Entbehrung, der Schmach und Lästerung, der Bande und des Kerkers, der Misshandlungen und der Verurteilung, des Kreuzes und des Todes, welchen der göttliche Erlöser sich hingegeben hat, nicht anders über ihn kommen konnten, als daß sie zugleich das Herz seiner geliebten durchbohrten, und zwar unvergleichbar schmerzlicher und bitterer, als wenn alle diese Gewässer der Trübsale unmittelbar über sie selbst und über sie allein sich ergossen hätten, wie der ehrwürdige Thomas von Kempen bemerkt, indem er in dieser Erwägung ausruft: „O wahrhaft einziges Martyrium der trostlosen Mutter und zarten Jungfrau Maria, die von dem Mitleid mit dem Sohn viel bitterer im Herzen gequält wurde, als ein Märtyrer, der auf die Folterbank gespannt ist!“ (Serm. 21. ad Nov. divis. 2)
Von ihrem Leiden neben dem Kreuz ihres göttlichen Sohnes schreibt der heilige Bonaventura: „Die allerseligste Jungfrau Maria stand neben dem gemarterten Sohn mit gemartert im Herzen, neben dem verwundeten mit verwundet, neben dem gekreuzigten mit gekreuzigt, neben dem durchbohrten mit durchbohrt.“ (Serm. 1. Dom. Infr. Oct. Epiph.) Von ihrem Leiden im Tode Christi, des Herrn, sagt der heilige Hieronymus: „Maria war, da sie an der Seele gelitten hat, mehr, als eine Märtyrerin; weil nämlich ihre Liebe stärker gewesen ist als der Tod, denn sie hat den Tod Christi zum ihrigen gemacht“ (Epist. 10. ad Paul. et Eustoch. De Assumpt. B.M.V.), und ist dennoch nicht gestorben, wie der heilige Bernardus bemerkt: „Christus konnte dem Leibe nach sterben, sie konnte mit ihrem Herzen nicht mit sterben. Jenes hat die Liebe getan, wie niemals Jemand eine größere gehabt; und auch dieses hat die Liebe getan, wie es niemals eine ihr ähnliche gegeben hat.“ (Serm. De 12 stellis) Die Mutter musste ihrem göttlichen Sohn auch im Leiden, im Martyrium vor allen übrigen Heiligen und Märtyrern am gleichförmigsten und ähnlichsten sein.
Sagt nun selbst, geliebte Christen! Ob es recht sei, wenn, während die Mutter alle Gattungen von Leiden mit ihrem göttlichen Sohne erduldet, wir, ihre Kinder und Glieder Jesu Christi, uns gegen irgend ein Leiden sträuben? Ist nicht auch für uns, wie für Christus und seine hochgebenedeite Mutter, das Leiden von Gott bestimmt, und ist nicht Gott es, welcher den Kelch des Leidens, wenn ihn auch andere Ursachen füllen und überfüllen, uns mit seiner Vaterhand darreicht? Wissen und verstehen wir es besser, was uns nützlich und heilsam ist als Gott; oder lieben vielleicht wir uns selbst mehr, als Gott uns liebt?
Folgen wir doch dem Vorbild unserer Mutter, die sich nicht selbst das Leiden gewählt, sondern von Gott angenommen, und demselben mit Großmut sich hingegeben hat nach dem Vorbild ihres göttlichen Sohnes, damit auch wir der Mutter und dem Sohn ähnlich und gleichförmig werden, und, wenn wir, wie sie, gelitten haben, auch mit ihnen zur Krone der himmlischen Herrlichkeit und Seligkeit gelangen; denn der heilige Paulus sagt: „Unsere gegenwärtige Trübsal, die augenblicklich und leicht ist, bewirkt eine überschwängliche, ewige,Alles überwiegende Herrlichkeit in uns.“ (2. Kor. 4, 17) Oder sind denn auch alle möglichen Gattungen von Leiden dieser Erde ein zu hoher Kaufpreis für die Seligkeit des Himmels? Ist denn die Spanne Zeit dieses Lebens zu vergleichen mit der Ewigkeit des künftigen Lebens?
Wenn daher auch unser ganzes Leben ein fortwährendes Martyrium wäre, müßten wir nicht auch so noch Gott loben und preisen, daß es uns vergönnt sei, mit diesen winzigen und wenigen Augenblicken eben so viele unendliche und ewige Güter zu erwerben? Ist uns unsere himmlische Mutter nicht auch hierin das herrlichste und großartigste Vorbild? Hat Maria nicht fortwährend gelitten? Hat ihr Martyrium nicht so lange, als das Martyrium ihres göttlichen Sohnes und noch länger gedauert? „Vergiß nicht die Schmerzen deiner Mutter.“ –
aus: Georg Patiss SJ, Über die Leiden Mariä der Königin der Märtyrer, 1884, S. 14 – S. 19