Gnadenorte der hohen Himmelskönigin Maria
Die Gnadenkirche Maria Straßengel ob Graz in der Steiermark
An dem Kreuzzug in das heilige Land, der der heilige Bernard predigte und der Kaiser Konrad III. mit dem König Ludwig VIII. von Frankreich im Jahre 1147 unternahm, hatte auch der Markgraf und Landesfürst Ottokar V. von Steiermark teilgenommen.
Der Kreuzzug nahm leider durch Verrat der griechischen Völker und durch Uneinigkeit der christlichen Heerführer ein klägliches Ende und die christlichen Fürsten verließen mit bitterer Wermut den heiligen Boden. Auch Ottokar sah sich genötigt, nach Hause zurück zu kehren. Vor seinem Heimzug aber sah er in der Hauptkirche zu Jerusalem ein Liebfrauenbild, welches der heilige Lukas gemalt. Es stellt die allerseligste Jungfrau vor, wie selbe in ihrer zarte Jugend von ihren heiligen Eltern Joachim und Anna im Tempel zu Jerusalem aufgeopfert wurde. Sie steht aufrecht mit vor der Brust erhobenen und gefalteten Händen, mit zierlich über die schultern frei herab wallenden Haaren, mit einem langen blauen Kleid bekleidet, in welchem hin und her in schönster Ordnung goldene Getreideähren eingewirkt glänzen.
Das heilige Bild gefiel dem Fürsten so sehr, daß er alles Mögliche tat, um es in seinen Besitz zu erhalten, allein vergeblich. Da ließ er es durch eine geschickte Hand auf hartem Holz dem Original gemäß auf das genaueste nachbilden und brachte es mit nach Hause. – Dort wollte er vor demselben nicht bloß seine eigenen Andacht verrichten, sondern er wollte auch, daß es allgemein verehrt würde. Zu dem Ende erwählte er einen mit Tannen und Fichten bewachsenen Hügel, wo schon früher der Mutter Gottes eine hölzerne Kapelle von ihm erbaut war, und der durch verschiedene wunderbare Ereignisse von den Umwohnenden als ein Gott geheiligter Ort angesehen wurde. Ottokar befahl daher im Jahre 1157, dieses erwähnte marianische Gnadenbild in die bereits bestehende Kapelle zu bringen und dort zur öffentlichen Verehrung aufzustellen und damit die Andacht für alle Zeiten ununterbrochen befördert und erweitert würde, hat Markgraf Ottokar diese Kapelle dem Zisterzienser-Kloster Rein auf ewig geschenkt und einverleibt. –
Schon nahe an hundert Jahren wurde das liebliche Marienbild in der Kapelle verehrt, als gute Hirten an einem der Kapelle nicht fernen Tannenbaum ein Kruzifix entdeckten, welches neben einem Ast des Baumes heraus gewachsen war. Es stellte auf eine wunderbare Weise deutlich Jesum Christum den Gekreuzigten dar mit ausgestreckten Armen und angehefteten Füßen. Haupt- und Barthaare aus feinen Wurzelfasern umgaben das Angesicht, in dem der bitterste Todesschmerz ausgedrückt ist. Das ganze Bild mit dem Leib des Heilandes war rückwärts an die Rinde des Baumes angewachsen. –
Die Hirten, welche das wunderbare Bild entdeckten, wagten es nicht, es zu berühren, sondern meldeten ihren Fund dem damaligen Abt des Klosters Rein, durch welchen die Nachricht davon an den damaligen Erzbischof von Salzburg gelangte, welche das Wunderwerk selbst sehen wollte. In seiner Gegenwart sowie in der Gegenwart des Bischofs von Seckau, des Abtes von Rein, des ganzen Klosterkonvents und einer ungemeinen großen Volksmenge wurde das Kreuz von dem Tannenbaum abgelöst, mit feierlicher Prozession in die Kapelle übertragen und dem gnadenreichen Marienbild beigesetzt.
Der Andrang des gläubigen, andächtigen Volkes nahm nun immer mehr zu, und da auch häufige Wunder geschahen und die vertrauensvoll Betenden aus den Händen der hilfreichen Gottesmutter vielfache Wohltaten empfinden, wurde die Kapelle, die fast durch zwei Jahrhunderte stand, zu klein, für die scharenweise heran ziehenden Wallfahrer, und so legte er Abt Hertwig von Rein den Grund zum Bau einer neuen großen Kirche, die jetzt noch steht, im Jahre 1346. Aber nach zwei Jahren vom Tode ereilt, konnte er den Bau nur bis zur Fensterhöhe führen. Sein Nachfolger Seyfried aber setzte den Bau fort, und brachte ihn glücklich zur Vollendung, und Bischof Urban II. von Seckau weihte dann die Kirche und übertrug das Gnadenbild und das wunderbare Kruzifix in dieselbe. Die Kirche findet durch ihren schönen gotischen Bau und besonders durch ihren prachtvollen, zierlichen Turm kaum seines Gleichen im ganzen Lande Steiermark und ist in derselben auch seit dem Jahre 1667 die Bruderschaft St. Anna eingeführt, die zahlreiche Mitglieder hat.
Das Gnadenbild war fortdauernd der Gegenstand der innigstenVerehrung des in Menge zu demselben pilgernden Volkes, und als vor 100 Jahren das sechste Jubiläum der Gnadenkirche feierlich begangen wurde, da eilten von allen Seiten zahlreiche Prozessionen herbei, um das Jubelfest mitzufeiern. Allein im Verlauf weniger Jahre darnach wurde in Folge der bösen ungläubigen Geistesrichtung, welche sich allmählich von Frankreich aus der Gemüter bemächtigt hatte, auch hier wie an so vielen Wallfahrtskirchen eine schändliche Verunehrung vollbracht. Die Kirche wurde geschlossen und die alte Kapelle zerstört, das wunderbare Kruzifix wurde entfernt und das Gnadenbild in die Pfarrkirche nach Gratwein übertragen; die Ordensgeistlichen mussten den heiligen Ort verlassen und bald verödete die von frommen Gesängen der Wallfahrer sonst widerhallende Stätte der Andacht.
Durch sieben Jahre trauerte die schöne Kirche um ihren Schatz, den sie Jahrhunderte in ihrem Schoß geborgen hatte und die ganze Umgegend mit ihr. Da reisten mehrere Männer der Gemeinde nach Wien und wendeten sich an das väterliche Herz des Kaisers mit der Bitte, die Kirche zu Straßengel dem Gottesdienst wieder öffnen zu dürfen, und Er, von ihrem Schmerz gerührt, gewährte die Bitte. Als die Kirche wieder eröffnet, das Gnadenbild wieder aufgestellt, der Gottesdienst wieder gefeiert wurde, da nahm auch die Zahl der Pilger wieder fortwährend zu, und als im Jahre 1858 das siebente Jubiläum gefeiert wurde, da sah man aus der Teilnahme der Gläubigen, daß der Gnadenort wieder seinen alten Glanz erhalten habe. –
aus: Georg Ott, Marianum Legende von den lieben Heiligen, Zweiter Teil, 1869, Sp. 2688 – Sp. 2689