Das Buch der Psalmen oder auch der Psalter genannt
David, der starke Held und mächtige König, ist auch der „liebliche Sänger Israels“ (2. Kg. 23, 1), d. h. Urheber der Psalmendichtung, die ganz und gar religiöser Natur ist und wesentlich gottesdienstlichen Zwecken diente. Der Sinn für Musik und Poesie war schon in dem Hirtenknaben lebendig, erhielt offenbar in den mannigfachen Prüfungen und Erfahrungen eines bewegten Lebens eine ernste und höhere Richtung und kam endlich dem für die Ordnung und Verherrlichung des Gottesdienstes besorgten König zu gut. Vom Geist Gottes erleuchtet, verfaßte und sammelte David heilige Lieber zum gottesdienstlichen Gebrauch und ward zum Propheten, der in mehreren (messianischen) Psalmen die Botschaft vom Erlöser und seinem Reich verkündete. (1)
Das Psalmenbuch oder der Psalter (2) enthält 150 Psalmen, die jedoch nicht alle von David verfaßt sind. In den Überschriften der Psalmen, die später beigesetzt sind, werden außer David noch als Verfasser genannt Moses beim 89., Salomon beim 71. und 126., Asaph beim 49., 72. bis 82.; Heman bei 87., Ethan beim 88., endlich die Söhne Kores beim 41., 42. bis 49., 83., 84., 85., 87. Psalm. (3) –
Wie im alten Bund, so wurden auch im Neuen Bund die Psalmen stets als vom heiligen Geist eingegebene Gebete und Lieder betrachtet, und kein anderes Buch der Heiligen Schrift wurde von Christus und seinen Aposteln so häufig erwähnt. (4)
Die heiligen Väter wissen dieselben nicht genug zu rühmen und zu empfehlen. Das Psalmenbuch ist ihnen – ganz abgesehen von den herrlichsten und deutlichsten Weissagungen über die Gottheit, die Geburt, die Taten, das Leiden und die Auferstehung des Herrn – der vollste Born der göttlichen Wahrheiten, die Summe aller Sittenlehre, ein allgemeiner und unerschöpflicher Schatz des Lebens, eine Arznei süßer Beredsamkeit, eine Dichtung mit himmlischer Salbung gewürzt und höchst geeignet, alle Leiden der Seelen zu heilen, wie groß sie auch immer sein mögen; ein Buch, worin die Lehre mit der Anmut um den Vorzug streitet und dessen Lesung von keinem andern Buch übertroffen wird; ein Buch für jeden, der die Majestät, Allmacht, Weisheit und Vorsehung Gottes preisen, die Erbarmungen des höchsten Richters anrufen, oder Hilfe in Trübsalen aller Art von Gott erflehen, für Wohltaten ihm danksagen, sich belehren und erbauen will.
David ordnete den Gesang beim Heiligtum und machte ohne Zweifel den Anfang mit einer Sammlung von ihm selbst verfaßter heiliger Lieder. Fortan bildeten die Psalmen den Hauptbestandteil des feierlichen Gottesdienstes, der sich an die Opfer anschloss. Spätere Könige, die sich um die Wiederherstellung oder Neuordnung des Gottesdienstes annahmen (Salomon, Ezechias, Josias), veranstalteten weitere Sammlungen von (älteren und jüngeren) Psalmen, die schließlich nach der Wiederherstellung des Tempels unter Esdras oder Nehemias zu der jetzt in fünf Bücher geteilten Sammlung aller 150 Psalmen vereinigt wurden. Von der Synagoge ging der Gebrauch der Psalmen unmittelbar in die christliche Kirche über. Christus, der Herr selbst, betete und sang beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern Psalmen (5), ebenso die Apostel und ersten Christen in ihren gottesdienstlichen Versammlungen. (6) Die ersten Christen bedienten sich der Psalmen außerdem bei festlichen Mahlzeiten, bei Bestattung der Toten, bei ihren täglichen Arbeiten, beim Tagesschluss, selbst im Gefängnis. Man lernte im Altertum und während des Mittelalters die Psalmen auswendig und prägte sie schon den Kindern ein (7); von den Mönchen war es geradezu gefordert, daß sie den Psalter auswenig wußten. Auch heute noch besteht nicht nur ein besonderer Teil der Gebete der heiligen Messe (der Introitus, das Graduale, das Offertorium, die Communio) aus Bruchstücken von Psalmen, sondern die Psalmen bilden auch den Hauptbestandteil der gottesdienstlichen Bücher überhaupt sowie des kirchlichen oder priesterlichen Stundengebetes, des Breviers.
Nach dem Inhalt unterscheidet man die Psalmen in:
a) Lob- und Dankpsalmen, z. B. 8, 17, 18, 45-47, 91, 102-106, 145-150;
b) Gebet- und Bittpsalmen, z. B. 3, 5, 29, 63, 73, 79, 93;
c) Bußpsalmen, wie 6, 31, 37, 50, 101, 129, 142;
d) Lehrpsalmen, z. B. 1, 48, 118;
e) Festpsalmen, z. B. 14, 23;
f) Geschichtliche Psalmen, z. B. 104, 105;
g) Messianische Psalmen (8)
Was die Form betrifft, so bildet der sog. Parallelismus der Glieder das eigentliche Grundgesetz der hebräischen Poesie: er besteht in einem Rhythmus (Ebenmaß) der Gedanken, nicht der Worte oder Silben (obwohl auch darin die Hebung und Senkung nicht fehlt, die man als Metrum bezeichnen kann). Der dem bewegten Innern entströmende Gedanke wird nicht in einem Satz, in einer ununterbrochenen Reihe von Worten zum vollständigen erschöpfenden Ausdruck gebracht, sondern in mehrere, sich gegenseitig entsprechende ebenmäßige Glieder zerlegt, die einander so gegenüber treten, daß in dem einen die Rede sich hebt, in dem andern sich senkt. Die parallelen Glieder sind entweder synonym (gleich oder ähnlich) oder antithetisch (entgegen gesetzt) oder synthetisch (fortschreitend). In Rücksicht auf die Worte kann der Parallelismus vollkommen oder unvollkommen sein, je nachdem die Zahl der Worte (Hebungen und Senkungen) gleich oder ungleich ist.
(1) Den prophetischen Beruf Davids bezeugen im NT Christus selbst (Mt. 22, 43; Mk. 12, 36) und die Apostel (Apg. 2, 25 u. 30; 4, 25). – Als „eine hohe Ruhmestat für alle Zeiten“ rechnet es u.a. Delitzsch (Babel und Bibel III 15) der neueren atl. Wissenschaft an, daß sie die Psalmen in ihrer überwältigenden Mehrheit der jüngsten Periode der hebräischen Literatur zuschreibt, die Überschriften „von David“ für wertlose „mit Inhalt und Sprache meist unvereinbare spätere Zusätze“ erklärt und keinen einzigen Psalm als von David verfaßt gelten läßt. Die bisherige Annahme der Überlieferung soll ganz besonders geeignet sein, „den Werdegang der Religion Israels gründlich zu verschleiern“. Die „Ruhmestat“ kennzeichnet sich selbst durch den vollendeten Widerspruch gegen das Zeugnis der Heiligen Schrift und der gesamten Überlieferung und durch das Übermaß von Willkür, womit sie dieses Zeugnis zu beseitigen sucht (vgl. Am. 6, 5). Gerade hier wird auch offenbar, daß der Werdegang der Religion Israels mit dem Maßstab der evolutionistischen Schablone gemessen werden soll. Dieser Maßstab, der das Rückgrat der neueren atl. Wissenschaft bildet, ist aber durch die Ergebnisse der Forschung zerbrochen. Positiv spricht die Tatsache, daß in Ägypten und Babylonien die religiöse Dichtung (psalmenartige Hymnen, Buß- und Bittgebete) bereits in Blüte stand, ehe an ein Volk Israel zu denken war (Gunkel), entschieden für die jüdische Überlieferung, die dem David die Abfassung von Psalmen zuschreibt. Außerdem ist geltend zu machen, daß manche Psalmen erst verständlich und bedeutungsvoll werden, wenn wir sie im Zusammenhang der Geschichte Davids betrachten; von andern lässt sich nachweisen, daß sie von David wenigstens gedichtet sein können. Endlich lässt sich die Tatsache, daß die (in den Überschriften ausgedrückte, sehr alte) Überlieferung David eine große Anzahl Psalmen zuschrieb und schließlich der ganzen Sammlung seinen Namen beilegte, nur begreifen, wenn der gro0e König Urheber der Psalmendichtung war und eine Sammlung seiner Lieder den Grundstock der ganzen späteren Sammlung bildete. Wie groß die Zahl der von David selbst verfaßten Psalmen war, und inwieweit in denselben später Veränderungen (Bearbeitungen) stattgefunden haben, ist von untergeordneter Bedeutung. Die Psalmensammlung erhielt ihren Abschluss und ihre jetzige Gestalt nach der von den heiligen Vätern (z. B. Hilarius im Abendland, Theodoret im Morgenland) bezeugten Überlieferung im Zeitalter des Esdras bzw. durch diesen selbst. Vgl. Ecker, Porta Sion, Trier 1903, Einl. 20-25.
(2) Psalter nennt man auch den ganzen Rosenkranz mit den 15 Geheimnissen, weil die 150 Ave Maria desselben eine Nachbildung der 150 Psalmen darstellen.
(3) Asaph, Heman und Ethan waren Vorsteher der Sänger beim Heiligtum unter David und Salomon; über die Söhne Kores vgl. Der Sabbatschänder und die Rotte Cores
(4) Vgl. Mt. 13, 35; 27, 35; Lk. 24, 44.
(5) Mt. 26, 30; vgl. 27, 46.
(6) 1. Kor. 14, 15; Eph. 5, 19; Kol. 3, 16; Jak. 5, 13.
(7) Ein um 1500 in Augsburg gedrucktes Psalterium puerorum enthält eine Auswahl der gebräuchlichsten Psalmen, die hauptsächlich in der Sonntagsvesper zur Verwendung kommen und auf die sich ohne Zweifel das Auswendiglernen beschränkte.
(8) Die von Stade (1892) aufgebrachte modern-rationalistische Auffassung betrachtet den Psalter als das messianischste Buch des AT, doch nur in dem Sinne, daß in diesem „Gebetbuch der nachexilischen Gemeinde“ die Bitte um Hilfe, Rettung, Erlösung vorzugsweise zum Ausdruck kommt. Von Weissagung keine Spur, nur von messianischen Hoffnungen der Gemeinde, in denen die Erwartung des messianischen Königs zwar bestimmt enthalten ist, in denen aber dessen Gestalt noch nicht wie in der neutestamentlichen Zeit beherrschend in der Mitte steht. –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. I, Altes Testament, 1910, S. 729 – S. 731
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