Werde Meister über deinen Zorn
Stelle dir jetzt im Geiste die zwei Porträts neben einander: den Grafen Heinrich in seinem launigen Jähzorn, der ihm sein Lebensglück zerstört und namenloses Weh bereitet, und die Gräfin Idda in ihrer ruhigen milden Sanftmut, die ihr den Weg zur erhabensten Tugend bahnt und den himmlischen Frieden des Herzens bewahrt. Betrachte doch die Abscheulichkeit des Zornes. Der hl. Basilius sagt: „Die heilige Schrift tut den Ausspruch: „Ein zorniger Mensch ist schändlich.“ Warum schändlich? Weil er die edle Gestalt des Menschen in die häßliche Gestalt des wilden Tieres umwandelt. Schau nur den Zornigen an: er rast, er lärmt, er tobt, seine Augen rollen und sprühen Feuer: er gleicht dem Eber, der die Zähne wetzt.“ Wende doch gegen die sechste der Hauptsünden folgende zwei Mittel an:
1. Sei stets eingedenk deiner eigenen Fehler und Sünden, mit denen du dar oft seine Hausgenossen und Nachbarn beleidigst, kränkst, zur Ungeduld und zum Zorn wider dich heraus forderst. Wisse, daß du in Allem, wodurch du den Mitmenschen verletzest und erzürnst, auch den allgegenwärtigen Gott beleidigst und zum Zorn wider dich reizest. Wie froh bist du, wenn dein beleidigter Mitbruder sanft und friedfertig dir verzeiht, wenn der langmütige Gott dir Zeit zur Reue und Buße gibt! Der feste Glaube an diese Wahrheit gibt dir einen Zügel für deinen Zorn in die Hand. „Denn“, sagt der hl. Climakus, „wie vor der Sonne die Finsternis flieht, so verschwindet vor der Demut (vor dem Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit) alle Bitterkeit, und die Flamme des Zornes erlischt! Hoffahrt, Eigendünkel und Selbstüberschätzung bewirken gar oft, daß wir uns für beleidigt halten, da wir in Wahrheit gar nicht beleidigt worden sind.“ Dagegen die demütige Erinnerung an die begangenen Sünden bewirkt, daß wir uns nicht für beleidigt halten, selbst da wir wirklich beleidigt worden sind.
2. Blicke recht oft hin auf deinen göttlichen Lehrer, auf Jesus im Tabernakel. Wie viele Stunden und Tage lässest du Ihn allein in seinem Gefängnis, ohne daß du an Ihn denkst, ohne daß du Ihn besuchst, als ob Er deiner Gegenwart gar nicht würdig wäre! Wie manchmal kommst du zwar in die Kirche, aber mit einer Kälte, mit einer Gleichgültigkeit, die seine Liebe zu dir bitter kränken muss! Wie oft hast du dir schon Frechheiten wider den Hochgelobten erlaubt, die sich kein Knecht von seinem empfindlichen Herrn gefallen ließe! Und wie hat dich dagegen der süße Jesus behandelt? Hat Er dir jemals Vorwürfe gemacht, wenn du in Not und Trübsal Ihn um Hilfe angefleht? Hat Er dir jemals die heilige Absolution verweigert, wenn du reuig deine Sünden bekanntest? Oder hat Er dich von der Kommunionbank weg gewiesen, wenn du nach der Speise seines Fleisches und Blutes verlangtest? Oder hat Er je dich ausgeschlossen von seiner Hl. Fürbitte, die Er Tag und Nacht für uns verrichtet? O gehe zu Ihm in die Schule, und du wirst Meister über deinen Zorn sein! –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 827 – S. 828