P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
§ 1 Vom Gebet des Herrn
Von dem Gebet des Herrn Das Vaterunser
Welches ist das vortrefflichste Gebet?
Das vortrefflichste Gebet ist das Gebet des Herrn oder das Vaterunser, welches Christus der Herr selbst uns gelehrt und zu beten befohlen hat.
Als Christus der Herr einst an einem angelegenen Orte gebetet hatte, sprach einer seiner Jünger zu ihm: „Herr lehre uns beten, wie auch Johannes (derTäufer) seine Jünger gelehrt hat.“ Der Herr antwortete: „Wenn ihr betet, so sprechet. Vater unser usw.“ (Luk. 11,1-4; Matth. 6,9-13). Christus, der Sohn Gottes selbst, hat uns also gelehrt, um was und wie wir beten sollen, hat uns eine bestimmte Gebetsformel gegeben und anempfohlen.
Ein vortrefflicheres Gebet als dieses Gebet des Herrn gibt es ohne Zweifel nicht; es ist nicht nur wegen seines göttlichen Ursprunges das ehrwürdigste und weihevollste, sondern auch am meisten geeignet, uns jene Gnaden zu erflehen, die wir zu unserer Wohlfahrt bedürfen! Jesus, die ewige Weisheit, kannte ja am besten alle unsere Bedürfnisse, wußte auch, wie unsere Bitten beschaffen sein müßten, um bei seinem himmlischen Vater eine gnädige Aufnahme zu finden, und als die unendliche Güte und Liebe wollte er uns instand setzen, so zum göttlichen Vaterherzen zu flehen, daß wir zuversichtlich Erhörung hoffen dürfen.
Der Umstand selbst, daß er, der Sohn Gottes, dieses Gebet abgefaßt hat, verbürgt uns die Gewährung der darin ausgesprochenen Bitten. Denn wie ein irdischer Fürst nicht anstehen wird, eine Bittschrift gnädig aufzunehmen, die sein eigener innig geliebter Sohn verfaßt und einzureichen geheißen hat, so wird auch ohne Zweifel der himmlische Vater das Gebet huldvollst erhören, das uns sein eingeborner Sohn gelehrt und zu verrichten befohlen hat. Sehr schön spricht hierüber der hl. Cyprian: „Er, der uns das Leben gegeben, hat uns auch beten gelehrt, auf daß wir, wenn wir mit dem Gebet und Flehen, das der Sohn gelehrt hat, zum Vater reden, desto leichter erhört werden… Denn da Christus sagt, um was immer wir den Vater in seinem Namen bitten, das werde der Vater uns geben; um wieviel sicherer werden wir das erlangen, um was wir nicht nur in Christi Namen, sondern mit dessen eigenen Worten bitten!“ (Vom Gebet des Herrn)
Woraus besteht das Vaterunser?
Aus der Anrede: „Vater unser, der du bist in dem Himmel“ und aus den sieben Bitten: „Geheiligt werde dein Namen usw.“
Wenn man sich an die Großen und Mächtigen dieser Erde wendet, um irgend eine Gnade von ihnen zu erlangen, so pflegt man sie in der Anrede mit dem ihrer Würde entsprechenden Titel: „Majestät“, „Hoheit“, „Durchlaucht“ usf. Zu beehren, um ihnen dadurch die gebührende Huldigung darzubringen und sie gnädig zu stimmen. Ein gleiches Verfahren geziemt sich der allerhöchsten Majestät Gottes gegenüber. Die Gerechten des Alten Bundes begannen häufig ihr Gebet mit der Anrede: „Herr, allmächtiger König, der du Himmel und Erde erschaffen hast“, oder mit andern, ähnlichen Worten, die sich auf die Allmacht und unumschränkte Herrschaft Gottes bezogen. Jesus Christus aber lehrte uns, den Allerhöchsten mit dem trauten Namen „Vater“ anzureden. Die weitere Erklärung der Worte „Vater unser, der du bist in dem Himmel“ wird nachher gegeben werden; hier genüge es zu bemerken, daß dieselben noch keine Bitte, sondern bloß den Titel enthalten, den wir nach der Anweisung unsers göttlichen Lehrmeisters dem Allerhöchsten beilegen sollen, wenn wir bittend vor seinem Gnadenthrone erscheinen.
Was nun die sieben Bitten betrifft, so begreifen dieselben in bewundernswerter Kürze und in der angemessensten Ordnung alles in sich, um was wir geziemender Weise Gott bitten können. In den vier ersten bitten wir, daß Gott uns alles, was zur Erreichung unsers letzten Zieles notwendig oder nützlich ist, geben wolle; in den drei letzten, daß er alles, was uns an der Erreichung dieses Zieles hindert, gnädig von uns abwende.
Das letzte Ziel, wozu wir erschaffen sind, ist Gott. Ihn sollen wir vor allem ehren und verherrlichen. Daß wir dieses wirklich tun mögen, begehren wir in der ersten Bitte: „Geheiligt werde dein Name“. Wir sollen sodann Gott ewig besitzen und an seiner Seligkeit teilnehmen; dieses begehren wir in der zweiten Bitte: „Zukomme uns dein Reich“. Um aber zum Besitze Gottes zu gelangen, müssen wir hienieden den Willen Gottes treu erfüllen; daher lautet die dritte Bitte: „Dein Wille geschehe wie im Himmel als auch auf Erden.“ Da wir ferner auf unserer irdischen Pilgerschaft täglich der Nahrung für Leib und Seele bedürfen, so ist die vierte Bitte: „Gib uns heute unser tägliches Brot.“ Der Erreichung unseres Zieles steht ein dreifaches Übel hindernd im Wege: ein vergangenes, ein gegenwärtiges und ein zukünftiges. Ein vergangenes Übel, das aber in seinen Folgen fort dauert, ist jede Sünde, deren man sich schuldig gemacht, und deshalb bitten wir fünftens: „Vergib uns unsere Schulden.“ Das gegenwärtige Übel ist die Gefahr, neue Sünden zu begehen, eine Gefahr, in der wir so vieler Versuchungen wegen fast unausgesetzt schweben. Darum folgt die sechste Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung.“ Das zukünftige Übel ist hauptsächlich der böse Tod und die ewige Verdammnis. Vor diesem Übel und allem, was dazu führt, bewahrt zu werden, begehren wir vorzüglich in der siebten Bitte: „Erlöse uns von dem Übel.“
aus: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 3, 1912, S. 426-428