P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
§ 1. Von dem Gebet des Herrn
Erklärung der zweiten Bitte im Vater Unser
„Zukomme uns dein Reich“
Was begehren wir in der zweiten Bitte: „Zukomme uns dein Reich“?
In der zweiten Bitte begehen wir, 1. daß das Reich Gottes auf Erden, die Kirche, sich immer mehr verbreite; 2. daß das Reich der Gnade und Liebe jetzt in unser Herz einkehre, damit wir 3. nach diesem Leben alle in das Reich des Himmels gelangen mögen.
Gott ist der Herr und König der ganzen Welt; denn alles hat er ins Dasein gerufen, alles erhält; darum ist auch alles seinem Zepter unterworfen. Man kann daher mit Recht das ganze Weltall, Himmel und Erde, das Reich Gottes nennen. Allein in diesem Sinne darf hier der Ausdruck „dein Reich“ nicht genommen werden. Im Gottesreich der Schöpfung stehen wir ja mitten drin; wir brauchen daher nicht erst zu beten, daß dieses zu uns komme. Welches Reich Gottes ist denn hier gemeint? Ein dreifaches: ein Reich Gottes um uns, ein Reich Gottes in uns und ein Reich Gottes über uns.
1. Das Reich Gottes um uns ist jenes herrliche Reich, das der Heiland mit seinem kostbaren Blute sich erworben hat, das er fortwährend schützt und regiert, seine Kirche auf Erden. Er selbst legt der Kirche den Namen „Reich Gottes“ bei, indem er sagt, er sagt er sei dazu gesandt worden, „das Evangelium vom Reiche Gottes zu verkünden“ (Luk. 4,23), und er werde am Ende der Welt seine Engel aussenden, damit sie „aus seinem Reiche alle Ärgernisse sammeln“ (Matth. 13,41). Wir sind nun zwar durch die hl. Taufe in dieses Reich Gottes aufgenommen; nichts desto weniger bitten wir, daß es zu uns komme, in dem Sinne nämlich, daß wir immer vollkommenerer Mitglieder desselben werden. Namentlich aber bitten wir, daß alle jene, die das Glück noch nicht haben, der Kirche anzugehören, sie kennen lernen und in dieselbe eintreten mögen. Möchten doch alle Christen sich der großen und heiligen Pflicht bewußt werden, die sie in dieser Hinsicht haben. Bereits vor zwei tausend Jahren ist Christus, das Licht der Welt, unter uns erschienen, um alle Menschen zu erleuchten, zu beleben, zu beglücken; und noch lagert die unselige Nacht des Heidentums auf dem größten Teil der Menschheit. Der Sohn Gottes ist Mensch geworden und hat die ganze Bitterkeit menschlichen Elendes verkostet, um alle Menschen zu Kindern Gottes zu machen und zu den nie versiegenden Quellen himmlischer Glückseligkeit zu führen; und noch schmachten über tausend Millionen in der Knechtschaft Satans und eilen dem ewigen Verderben zu. Und diese Menschen sind unsere Brüder, Kinder desselben Vaters im Himmel wie wir. Aber woher kommt es denn, daß jene Armen noch nicht erleuchtet sind vom Lichte der christlichen Wahrheit, daß sie noch belastet sind mit den Sklavenketten Satans? Das kommt daher, meine Teuern, daß zahlreiche Kinder der Kirche ihre heilige Pflicht, jenen Unglücklichen beizuspringen, vernachlässigt haben. Zwar sind nicht alle berufen, hinaus zu ziehen in ferne Länder und den Heiden das Evangelium zu predigen. Allein alle ohne Ausnahme können und sollen durch eifriges Gebet den Segen Gottes über die Arbeiten derjenigen herab flehen, denen jener erhabene Beruf zuteil geworden…
2. Das Gottesreich in uns ist das Reich der göttlichen Gnade und Liebe in den Herzen der Gerechten. Von diesem redet der hl. Paulus, wenn er sagt: „Das Reich Gottes ist nicht Speise und Trank, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Hl. Geiste.“ (Röm. 14,17) Dasselbe ist nur dann wirklich in uns, wenn der hl. Geist mittels der heiligmachenden Gnade in unserm Herzen wohnt und durch seine Einsprechungen unser Tun und Lassen leitet. Wohl uns, wenn das der Fall ist; denn dann herrscht zugleich himmlischer Friede und himmlische Freude in unserm Innern, wir verkosten dann schon hier auf Erden einen Vorgeschmack des seligen Lebens der Ewigkeit. Leider herrscht im Herzen so mancher, die äußerlich dem Reich Christi angehören, die Sünde und der Fürst der Sünde, der Satan; von diesem lassen sie sich leiten, seinen Einflüsterungen folgen sie. Unruhe, Bitterkeit, Trostlosigkeit, sind die traurigen Früchte davon und lassen diese Unglücklichen jetzt schon ahnen, was ihrer im andern Leben wartet. Aber auch bei jenen, in denen der Hl. Geist durch seine Gnade wohnt und herrscht, stehen seiner Herrschaft noch mancherlei Hindernisse im Wege. Ungeordnete Neigungen der verschiedensten Art widerstreben seinen heiligen Eingebungen und sind vielfach schuld, daß diese entweder gar nicht oder nur unvollkommen ausgeführt werden. Erst nach vielem Kämpfen und Ringen gelingt es uns, dem Reich der Gnade die ausschließlich Herrschaft in unserm Innern in etwa zu sichern. Indem wir nun beten: „Zukomme uns dein Reich“, sprechen wir unser Verlangen aus, daß der Hl. Geist bei uns und allen Menschen das Reich der Sünde mehr und mehr zerstöre und das Reich seiner Gnade immer vollkommener ausgestalte. Dabei sollen wir uns vornehmen, mit seiner Gnade stets treu und gewissenhaft mitzuwirken, damit wir nicht, während wir mit dem Munde sprechen: „Zukomme uns dein Reich“, durch unsere Werke ihm den Weg zu unserm Herzen versperren.
3. Das Reich Gottes über uns ist kein anderes als jenes Himmelreich, von dem geschrieben steht: „Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz ist es gekommen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“ (1. Kor. 2,9). Dieses Reich ewigen Friedens und ewiger Seligkeit ist es vor allem, was wir bei dieser zweiten Bitte des Vaterunser im Auge haben. Die Kirche auf Erden ist gleichsam die Vorhalle, welche zum Himmel führt, die göttliche Gnade und Liebe der Schlüssel, der uns die Himmelspforte öffnet, der Himmel selbst aber ist das Ziel und die Erfüllung all unserer Wünsche, der selige Ort, wo nichts mehr zu wünschen übrig bleibt. Und obschon dieses Reich über uns ist und wir zu demselben empor steigen müssen, um es in Besitz zu nehmen, so beten wir doch: „Zukomme uns dein Reich“, weil es uns wirklich als der Lohn eines tugendhaften Lebens von der Hand Gottes zukommt nach den Worten der Schrift: „Sie werden empfangen ein herrliches Reich und eine zierliche Krone aus der Hand des Herrn“ (Weish. 5,17), und weil der Heiland selbst dereinst kommen wird, uns dasselbe zu übergeben mit den Worten: „Kommet, ihr Gesegnete meines Vaters, nehmet Besitz von dem Reiche, welches euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt.“ (Matth. 25,34) O glückselig wir alle, wenn am großen Gerichtstage auch wir zu jenen Gesegneten gehören, denen der göttliche Richter das himmlische Erbteil übergeben wird! Lasset uns daher jetzt inbrünstig und beharrlich beten: O Vater! Verlaß uns nicht, schütze und bewahre uns, damit wir in diesem Lande der Verbannung nicht elend zugrunde gehen, sondern nach glücklich vollbrachter Pilgerschaft zu dir in dein himmlisches Reich gelangen mögen. Gerne wollen wir alle Mühsale und Leiden erdulden, wollen keine Anstrengung, keinen Kampf scheuen, wenn nur dereinst die ewige Freude des Himmels unser Anteil sein wird. –
Mit solchem Gebete sollen wir auch die innerliche Bereitwilligkeit verbinden, großmütig jedes noch so schwere Opfer zu bringen, um das Himmelreich zu gewinnen. Dazu fordert uns Jesus Christus selbst auf im Gleichnis vom Kaufmann, der eine kostbare Perle gefunden hat und nun hingeht und alles verkauft, was er besitzt, um derselben habhaft zu werden, wohl wissend, daß sie unvergleichlich mehr wert ist als alles, was er dafür hingibt.
aus: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 3, 1912, S. 432-435