Achtes Gebot Wodurch versündigt man sich gegen die Wahrheit?
Man versündigt sich gegen die Wahrheit durch jede Art von Lüge und Verstellung.
Lügen heißt, wissentlich und vorsätzlich die Unwahrheit sagen, oder was dasselbe ist, etwas das man als falsch erkennt, für wahr ausgeben. Wenn jemand etwas Unwahres aussagt, ohne zu wissen oder wenigstens ohne daran zu denken, daß es unwahr ist, der lügt nicht, weil er nicht vorsätzlich die Unwahrheit sagt. Auch derjenige macht sich keiner Lüge schuldig, welcher Parabeln, Fabeln, Märchen u. dgl. vorbringt; denn er hat nicht die Absicht, solche erdichtete Erzählungen für buchstäbliche Wahrheit auszugeben; er bedient sich derselben nur, um eine andere Wahrheit in das Gewand der Dichtung einzukleiden und dadurch anschaulicher zu machen. Die Absicht, etwas Unwahres als wahr hinzustellen, gehört also wesentlich zur Lüge. Wo dieselbe fehlt, kann von einer eigentlichen Lüge keine Rede sein. (1)
Da die Lüge an sich hässlich ist, so bedient man sich derselben kaum anders, als um einen bestimmten Zweck dadurch zu erreichen. Je nach dem Zweck nun, den man dabei verfolgt, unterscheidet man Schadenlüge, Dienstlüge, Notlüge und Scherzlüge. Will man durch die Lüge einem andern Schaden zufügen, so begeht man eine Schadenlüge; will man im Gegenteil einem andern durch eine Lüge eine Unannehmlichkeit ersparen oder einen Schaden von ihm abwenden, so tut man eine Dienstlüge. Notlüge nennt man diejenige, wodurch man sich selbst aus der Verlegenheit zu ziehen oder vor Schaden zu bewahren gedenkt. Beabsichtigt man endlich, zum Scherz andern etwas weiszumachen, so ist das eine Scherzlüge. Scherze, worin des Abenteuerlichen und Unwahrscheinlichen so viel vorkommt, daß jeder Vernünftige die Unwahrheit mit Händen greifen kann, sind keine Lügen mehr.
Jede Lüge ist in sich sündhaft; deshalb darf man niemals lügen, weder zum eigenen noch zum fremden Vorteil, nicht einmal aus Scherz oder Not. Ist der Zweck auch noch so gut, die Lüge ist und bleibt ein schlechtes Mittel; ein guter Zweck aber kann ein schlechtes Mittel niemals erlaubt machen. Darum heißt es im Buch der Sprüche (13, 5): „Der Gerechte verabscheut lügenhafte Reden.“ – Die Bosheit und Verwerflichkeit der Lüge erhellt aus vielfachen Gründen.
Erstens widerstreitet die Lüge der Wahrhaftigkeit Gottes und ist deshalb unter allen Umständen Gott missfällig.
Zweitens entehrt die Lüge denjenigen, welcher sie vorbringt. Das geht schon daraus hervor, daß ein jeder sich schämt, vor andern als Lügner dazustehen. Noch mehr aber erhellt das Entehrende der Lüge daraus, daß sie den Menschen, der als Ebenbild Gottes auch durch Liebe zur Wahrheit Gott ähnlich sein soll, dem Teufel ähnlich macht, dem „Vater der Lüge“. Darum sagt auch die Heilige Schrift: „Ein arger Schandfleck am Menschen ist die Lüge.“ (Sir. 20, 26)
Die Lüge ist drittens ein schmählicher Missbrauch der Sprache, dieses herrlichen Himmels-Geschenkes, das uns Gott gegeben hat, um unsere Gedanken mitzuteilen und die Wahrheit zu verbreiten, nicht um den Nächsten zu täuschen und Irrtümer auszustreuen.
Viertens richtet die Lüge manchfachen Schaden an. Unzählige Menschen kommen mittelst der Lüge um Hab und Gut, um Ehre und guten Namen. Und wie bitter und verdemütigend ist es nicht selten für den Belogenen, wenn er inne wird, daß er hintergangen und zum besten gehalten wurde! Die Lüge ist ihrer Natur nach sogar eine Feindin des gesellschaftlichen Lebens, indem sie das Band des wechselseitigen Glaubens und Vertrauens lockert und es vollends auflösen würde, wenn dieselbe überhand nähme.
Luther und nach ihm manche protestantische Gelehrte haben die Ansicht aufgestellt (2), die Lüge sei wenigstens unter gewissen Umständen erlaubt, nämlich wenn dringende Gründe dazu vorlägen. Allein wenn in solchem Falle die Lüge wirklich gestattet wäre, so müsste man auch im verkehr mit den besten und gewissenhaftesten Menschen stets fürchten, belogen zu werden. Ich könnte ja niemals wissen, ob nicht der, mit dem ich rede, solche Gründe habe oder zu haben glaube; und so wäre dann das gegenseitige Vertrauen, dieses so notwendige Fundament eines geordneten und glücklichen Zusammenlebens, wesentlich erschüttert. Aus diesem und andern Gründen hält die katholische Kirche unbedingt fest an der Lehre, daß die Lüge immer und unter allen Umständen sündhaft sei.
Eine Lüge ist zwar an sich noch keine Todsünde; sie wird dies aber nicht selten wegen der schlimmen Absicht, die man dabei hat, oder wegen der schweren Folgen, die damit verbunden sind. Deshalb sind, z. B. Verleumdungen, durch welche man den guten Namen des Nächsten schwer schädigt, sowie Lügen, wodurch man ihm sonst einen beträchtlichen Schaden verursacht, als Todsünden zu betrachten. Von dergleichen Lügen sagt die hl. Schrift: „Lügenhaften Lippen sind dem Herrn ein Gräuel.“ (Spr. 21, 22) „Der Mund, welcher lügt, tötet die Seele.“ (Weish. 1, 11) Solche Lügen hatte auch der königliche Prophet im Auge, als er zu Gott rief: „Du vernichtest alle Lügner; der Mann des Blutes und des Truges ist ein Gräuel dem Herrn.“ (Ps. 5, 7) Ist aber auch eine einfache Lüge an sich nur eine lässliche Sünde, so ist sie gleichwohl ein überaus hässlicher Fehler, zumal wenn sie zur Gewohnheit wird. Wie sehr Gott dieselbe hasst, und wie strenge er sie auch bestraft, zeigt uns in abschreckender Weise das Beispiel des Ananias und der Saphira, die wegen ihrer Lüge eines jähen Todes starben. (Apg. 5)
Obgleich es nun dem Gesagten zufolge niemals erlaubt sein kann, die Unwahrheit zu sagen, so ist es doch in vielen Fällen gestattet, die Wahrheit zu verschweigen und eine ausweichende Antwort zu geben. Solches darf man jedesmal tun, wenn der Fragende kein Recht hat, die Mitteilung der Wahrheit zu verlangen. Zuweilen ist man zu einer ausweichenden Antwort sogar verpflichtet, nämlich dann, wenn man über eine Sache gefragt wird, die man von Amts wegen oder aus Nächstenliebe als Geheimnis bewahren muss, die man aber durch einfache Weigerung einer Antwort schon in etwa verraten würde.
Verstellung und Heuchelei
Verwandt mit der Lüge ist die Verstellung, welche darin besteht, daß man durch sein äußeres Verhalten andere in Irrtum zu führen sucht. Sie ist eine Lüge durch die Tat und nicht weniger sündhaft als die Lüge, welche durch Worte begangen wird. Eine besondere Art der Verstellung ist die Heuchelei. Der Heuchler stellt sich fromm, obgleich er es durchaus nicht ist. Heuchler der gefährlichsten Art sind solche, die ihrem ganzen Tun und Treiben einen gleißenden Anstrich von Rechtschaffenheit und überschwänglicher Frömmigkeit zu geben wissen, um andere desto leichter zu verführen oder in die Schlingen ihrer irrigen Lehren zu locken.
Wie sehr Gott die Heuchelei verabscheut, ersehen wir deutlich aus dem Beispiel des göttlichen Heilandes, der die scheinheiligen Pharisäer mit größter Strenge behandelte und ihnen voll heiligen Unwillens zurief: „Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr übertünchten Gräbern gleicht, welche von außen vor den Leuten zwar schön in die Augen fallen, inwendig aber mit Totengebeinen und allem Unrat angefüllt sind! Gerade so erscheint auch ihr außen zwar gerecht vor den Menschen, inwendig aber seid ihr voll Heuchelei und Ungerechtigkeit.“ (Matth. 23, 27 und 28)
Anmerkungen:
(1) Damit ist nicht gesagt, zu einer Lüge auch notwendig die Absicht gehöre, andere in Irrtum zu führen, d. h. sie die Unwahrheit glauben zu machen. Fürs gewöhnliche ist allerdings auch diese Absicht dabei. Manche Theologen behaupten zwar, die Absicht zu täuschen gehöre zum Wesen der Lüge, und berufen sich dabei auf das ansehen des hl. Thomas und des hl. Augustin. Andere hingegen entscheiden sich, auf das Ansehen eben dieser hl. Lehrer gestützt, für das Gegenteil. Die Lehre des hl. Thomas scheint uns klar und bestimmt zu sein. Die Worte, so lehrt der hl. Thomas, sind Zeichen der Ideen oder der intellektuellen Vorstellungen. Durch die Worte teilen wir dem Nächsten unsere Gedanken mit. Das Eigentümliche der Lüge besteht demnach darin, daß einer anders spricht, als er denkt. Damit ist das Wesen der Lüge gegeben; die Absicht zu täuschen gehört bloß zu einer gewissen Vervollständigung derselben. Den meisten nämlich, die lügen, ist es nicht bloß darum zu tun, mit den Worten ein Spiel zu treiben und anders zu reden, als sie denken, sondern irgend welchen Zweck zu erreichen, z. B. Einer Strafe zu entgehen, einer Verdemütigung auszuweichen usw. Zu diesem Zweck ist eine Täuschung des Nächsten meistens notwendig. Es kann aber auch der Fall eintreten, daß jemand absichtlich die Unwahrheit sagt, ohne denjenigen, dem er sie sagt, täuschen zu wollen. In Ländern z. B., wo nach dem herkömmlichen Kriminalverfahren der Richter nicht befugt war, einer angeklagten und des Verbrechens genugsam überwiesenen Missetäter zum Tode zu verurteilen, bevor dieser sein Vergehen eingestand, geschah es mehr als einmal, daß derselbe trotz der dreimaligen geschärften Folter hartnäckig auf der Leugnung seiner von niemand bezweifelten Missetat bestand. Diese Ableugnung war sicher eine Lüge, obgleich der Übeltäter niemand zu täuschen, sondern bloß den Strick des Henkers sich vom Halse zu halten beabsichtigte; die Lüge führte da zum Ziel ohne eigentliche Täuschung. „Meine Zunge soll mich nicht an den Galgen bringen“, sagte einst in solchem Fall ein Delinquent, den wir nennen könnten. (S. Thom. 2.2.q. 110. a.3.c. et a.1.c. et ad 3.)
(2) „Eine Notlüge, Nutzlüge, Hilfslüge zu tun, wäre nicht wider Gott“, erklärte Luther dem Landgrafen von Hessen in Sachen der Doppelehe. (Kolb, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. II, S. 352. – Publikationen aus den k. Preuß. Staatsarchiven, Bd. V.) –
Quelle: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 2, 1912, S. 236 – S. 239